Deutlich mehr Autonomie für Behinderte

(Zürichsee-Zeitung / Bezirk Meilen)

Kantonsrat Wer Betreuung braucht, soll selbst sagen dürfen, wo und von wem.

Marius Huber

Niemand hatte etwas dagegen. So etwas kommt im Kantonsrat nicht mal alle Schaltjahre vor. Passiert ist es gestern bei einem neuen Gesetz, das das Leben von Tausenden von Menschen mit einer Behinderung tiefgreifend verändern kann. Statt in einem Heim zu landen, weil sie auf Betreuung angewiesen sind, können sie künftig selbst entscheiden, wo sie wohnen und von wem sie sich helfen lassen wollen. So, wie es die Behindertenverbände schon lange fordern und wie es auchdieBehindertenrechtskonvention der UNO verlangt.

Möglich wird dies, weil der Kanton öffentliche Gelder für Betreuungsleistungen nicht mehr in die Institutionen fliessen lässt, sondern direkt an die Behinderten – mittels Betreuungsgutscheinen und in manchen Fällen auch mit Geldbeträgen. So ist es im neuen «Selbstbestimmungs – gesetz» geregelt, welches das Gesetz über die «Invalideneinrichtungen» ablösen wird.

Doch noch eine Debatte

Diese Lösung finden im Kantonsrat alle derart gut, dass sie sich jetzt viel Mühe geben müssen, doch noch einen Anlass für eine Debatte zu finden. Und so streiten sie halt über die Ricola Frage: Wer hats erfunden? Oder darüber, ob Zürich damit wirklich zum viel beachteten Vorbild fürs ganze Land wird (Sicherheitsdirektor Mario Fehr), oder ob das Wallis noch etwas früher dran war (Fehrs Ex-Parteigenosse Thomas Marthaler, SP Zürich). Den Betroffenen dürfte dies einigermassen egal sein. Wichtiger ist für sie, dass die vorberatende Kommission zwei wichtige Anliegen der Behindertenverbände in die Vorlage eingebaut hat. Und zwar ebenfalls einstimmig.

Erstens geht es um den Drehund Angelpunkt des neuen Systems: die Fachstelle, die abklären soll, wie viel Unterstützung jemand im Alltag braucht. Und wie hoch die Beiträge sein müssen. Diese Fachstelle soll nur anfangs vom Kanton geführt werden, mittelfristig aber an Dritte ausgegliedert werden, damit sie wirklich unabhängig ist. Sicherheitsdirektor Fehr zeigte sich offen für diese Lösung.

Die Aufgabe der Fachstelle bleibt auch so anspruchsvoll genug, wie Jörg Kündig (FDP, Gossau) festhielt. Denn die Leistungen sollen «objektiv begründbar, aber der individuellen Situation angemessen» sein. Auf eine zweite Schwierigkeit wies Florian Heer (Grüne, Winterthur) hin: Die Fachstelle soll den Bedarf einerseits aufgrund der Selbsteinschätzung der Betroffenen bemessen, andererseits aufgrund einer Fremdeinschätzung, insbesondere der Beistände. Beides ist in Übereinstimmung zu bringen, ohne die Autonomie der Behinderten zu stark zu beeinträchtigen.

Wer Beiträge erhält

Die zweite entscheidende Ergänzung im neuen Gesetz: Menschen mit einer Behinderung können künftig ihre Betreuungsgutscheine nicht nur bei institutionellen Anbietern einlösen, sondern auch bei Menschen, die ihnen nahestehen. Also bei Familienmitgliedern, Verwandten, Freunden oder Nachbarn.

Zum «Knackpunkt» dürften dabei laut Andreas Daurü (SP, Winterthur) die Mindestanforderungen an diese privaten Leistungserbringer werden: Die Hürden dürfen nicht zu hoch sein. Die Orientierung an geltenden Tarifen soll sicherstellen, dass dadurch auch kein «Lohndumping» Einzug hält. Sondern dass im Gegenteil etwa Eltern eine finanzielle Anerkennung für bisher unentgeltlich erbrachte Leistungen erhalten, mit denen sie «unnötige Eintritte in Institutionen» zu vermeiden helfen.

Der Systemwechsel wird laut Regierungsrat Mehrkosten von rund 30 bis 50 Millionen Franken im Jahr auslösen. Dies fiel namentlich auf der bürgerlichen Ratsseite auf, weil der ursprüngliche Vorstoss von Beatrix Frey (FDP, Meilen) eine kostenneutrale Lösung verlangt hatte. Andererseits gab man sich bei der FDP überzeugt, dass dies langfristig wieder ausgeglichen wird, und bei der SVP war man zufrieden damit, dass deutlich weiter gehende Vorschläge von links rasch vom Tisch waren.

Viel Lob gab es angesichts der fein austarierten Vorlage auch für Sicherheitsdirektor Fehr und seine Verwaltung. Die Arbeit habe sich gelohnt, sagte Beatrix Frey. «Jetzt wünsche ich mir, dass man bei der Umsetzung des Gesetzes den gleichen Mut und Pragmatismus walten lässt – und den Betroffenen etwas zutraut.»

Die zweite Lesung steht noch aus. Der Systemwechsel solle etwa fünf Jahre in Anspruch nehmen