Sozialminister Main Berset lasst Behinderte im Stich

(Schweiz am Wochenende / Luzerner Zeitung)

Der Bundesrat will die Missstände bei der Berechnung der IV-Renten nicht beseitigen und stellt stattdessen ein offensichtlich faireres Verfahren zur Berechnung in Frage.


Dem Bundesrat wird vorgeworfen, 300 Millionen auf dem Rücken von Klein- und Mittelverdienern sparen zu wollen. Bild: Getty Images

 

Andrea Tedeschi

Wie gerecht sind die Renten, welche die Invalidenversicherung (IV) heute festlegt? Ungerecht, finden seit Jahren Fachleute und Politiker von links bis rechts, besonders jene für Gering- und Mittelverdiener. Die Kritik: mit der aktuellen Berechnung würden zu wenig Renten und Eingliederungsmassnahmen gesprochen, weil die IV von zu hohen Löhnen ausgehe. Zwei Studien konnten anfangs Jahr nachweisen, dass gesundheitlich beeinträchtigte Menschen auf dem Arbeitsmarkt «signifikant weniger» verdienen können, als von der IV angenommen. Ihre Einkommen liegen rund zehn Prozent unter jenen von Erwerbstätigen, die voll leistungsfähig sind.

Bundesrat Alain Berset könnte diesen Missstand korrigieren. Diese Woche musste er sich erstmals öffentlich dazu äussern. Berset sagte zwar, er sei offen für neue Lösungen. Eile zeigt er aber nicht: Er wolle die Studien berücksichtigen, aber zunächst die Evaluation der beiden ersten Jahre der IV-Reform abwarten. Diese tritt im Januar 2022 in Kraft.

Wartet Bundesrat auf Bundesgerichtsentscheid?

«Damit ist klar, dass sich der Bundesrat nicht bewegen will und von ihm in den nächsten Jahren sicher keine Anpassung zu erwarten ist», sagt Alex Fischer, Leiter Politik der Behindertenorganisation Procap. Mangels korrekter Berechnung müssten viele Menschen auf einen beruflichen Neustart oder auf eine Rente verzichten und würden dadurch von der Sozialhilfe abhängig, sagt Nationalrätin Barbara Gysi (SP/SG).

Im November hatte Berset bereits klar gemacht, dass er nichts ändern will. Er schrieb die umstrittene Berechnung in die Verordnung – entgegen dem Willen der Sozialkommission des Nationalrates und der überwiegenden Mehrheit der Parteien, Kantone, Juristen und Verbände. Sie werfen dem Bundesrat vor, 300 Millionen zum Nachteil der Klein- und Mittel-verdiener sparen zu wollen.

Auftrieb erhalten Kritiker durch einen Berechnungsvorschlag, den eine Arbeitsgruppe rund um Gabriela Riemer-Kafka, emeritierte Professorin für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht, seit 2020 erarbeitet hatte. Ihre Arbeit war ausschlaggebend, dass das Bundesgericht vor wenigen Wochen einen mit Spannung erwarteten Entscheid zur Berechnung der IV-Rente kurzfristig vertagte.

Noch prüft das Bundesgericht den Vorschlag. Trotzdem stellen Bundesrat und das Bundesamt für Sozialversicherungen in Frage, inwiefern dieser von der IV herangezogen werden könne. Es fokussiere auf körperliche Einschränkungen und berücksichtige psychische Beeinträchtigungen nicht.

Alles vorgeschobene Kritik des Bundes?

«Eine unbeholfene Antwort, die am Problem vorbeizielt», sagt Riemer-Kafka. Nicht nur könne eine psychische Beeinträchtigung präziser eruiert werden. Sie habe mehrfach festgehalten, dass dieses Instrument gleichzeitig körperliche, psychische und kognitive Funktionen erfasse und somit für psychisch beeinträchtige Menschen eingesetzt werden könne, sofern das Bundesgericht ihr Instrument zuliesse. Weiter moniert der Bund, das neue Instrument liesse sich nicht auf die Neuerungen in der IV-Revision anwenden. Riemer-Kafka kontert: «Neu wird die präzise Berechnung des IV-Grads noch wichtiger. Unser Vorschlag leistet dazu auch nach neuem Recht einen Beitrag.»

Anders als heute analysiert ihr Verfahren die körperlichen Beeinträchtigungen auf eine reale Tätigkeit hin, zum Beispiel, ob jemand noch knien, sitzen oder schwere Lasten über den Kopf tragen kann. So kann die effektive Arbeitsunfähigkeit eindeutiger eruiert werden.

Riemer-Kafka glaubt, der Bund warte den Entscheid des Bundesgerichts ab. Schlimmstenfalls gebe das Bundesgericht Riemer-Kafkas Vorschlag zur Prüfung an den Bund weiter, sagen Kenner des Dossiers. Dann sei die aktuelle Berechnung für Jahre zementiert. Die Sozialkommission des Nationalrates will nicht zuwarten. Sie hat den Bundesrat um rasches Handeln und neue Vorschläge gebeten.