Sie investieren in Bauten, weniger in Menschen

(Neue Zürcher Zeitung)

Wie China zu einer Grossmacht an den Paralympics geworden ist – doch der Profit für seine behinderten Athleten ist überschaubar


An den Paralympics in Peking hat das Gastgeberland China nach drei Tagen bereits 16 Medaillen gewonnen. ANDY WONG /AP

 

RONNY BLASCHKE

Im Sport gibt es nur noch wenige Botschaften der Kommunistischen Partei Chinas, die im Westen unkritisch aufgegriffen und weiterverbreitet werden. Eine davon: die Sommer-Paralympics 2008 hätten die Rechte von behinderten Menschen in der Volksrepublik gestärkt.

Immer wieder verweist Peking auf den «Aufbruch» von damals, den Bau von barrierefreier Infrastruktur in den Metropolen, die Verabschiedung von Gesetzen zu Bildung und Gesundheitsvorsorge, die Etablierung des Behindertensports. Es ist eine Erzählung, die das Regime nun fortschreiben möchte. Am Freitag haben in Peking die ersten Winter-Paralympics begonnen. Mehr als 650 Athleten aus 49 Nationen nehmen am Anlass teil.

«Symbol für Absonderung»

Stephen Hallett kann gut beurteilen, was sich hinter der Fassade verbirgt. Der britische Wissenschafter, der an der Universität Leeds forscht, hat lange in China gelebt und dort 2006 mit sehbehinderten Journalisten ein pädagogisches Radioprogramm aufgebaut.

«Es sind damals in der Zivilgesellschaft interessante Netzwerke entstanden», sagt Hallett, «das hat zu Fortschritten geführt. Doch leider haben die Behörden häufig auf den Rat von Menschen mit Behinderung verzichtet.» Als Beispiel nennt er Blindenleitsysteme, die nicht gewartet wurden oder keinen Sinn ergaben. «Es wurde viel Geld für Baumassnahmen ausgegeben, die am Ende nur wenigen Menschen zugutekommen.»

Die Kommunistische Partei möchte den paralympischen Erfolg für sich sprechen lassen. Mit Blick auf 2008 wurde in einem Vorort Pekings das weltweit grösste Trainingszentrum für Behin- dertensport errichtet. «Die Talentsichtung reicht von der nationalen Ebene über die Provinzen und Städte bis in die Dörfer», sagt der chinesische Gesundheitsexperte Wei Wang, der in Australien lehrt, «daran beteiligt sind Spitäler, Wohltätigkeitsorganisationen und Schulen.» Die Folge: Seit 2004 in Athen dominiert die Volksrepublik den Medaillenspiegel der Sommer-Paralympics – bei keinem anderen Sportereignis kann sie ihre politischen Rivalen so weit hinter sich lassen.

Das chinesische Regime deutet diese Überlegenheit als Sinnbild für die Fürsorge des Sozialstaates. «Tatsächlich haben die Paralympics in China wenig Einfluss auf die Bevölkerung», sagt Hallett, «sie sind gar ein Symbol für Absonderung.» Athleten, die für den Spitzensport rekrutiert werden, müssen monatelang in spartanischen Trainings-zentren verbringen, weit entfernt von Familie und Freunden. «Wer es nicht an die Spitze schafft, wird vom System ausgespuckt», sagt Hallett. «Auch Medaillengewinner erhalten nach ihrer Laufbahn wenig Unterstützung. Einige leiden unter Depressionen.»

Die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung ändert sich in China nur langsam – auch wegen jahrhundertealter Traditionen. Im Konfuzianismus gelten gesunde und «produktive» Kinder als ideal, weil sie ihre Vorfahren pflegen und die Familienlinie fort-schreiben können. Im ebenfalls einflussreichen Buddhismus gilt eine Behinderung mitunter als Strafe für ein früheres Leben. In der jüngeren Geschichte haben radikale politische Umwälzungen wie die Kulturrevolution Millionen Menschen mit einer Behinderung hervorgebracht. Gegenwärtig sind es auch Umweltschäden und frühere Abtreibungen als Folge der Ein-Kind-Politik, die sich auf die Gesundheit auswirken.

Laut einer Volkszählung von 2006 leben in China mehr als achtzig Millionen Menschen mit einer Behinderung, neuere Zahlen gibt es nicht. Drei Viertel der behinderten Menschen leben auf dem Land, fernab der modernen Grossstädte und der prestigeträchtigen Medaillenproduktion. Hallett sagt: «Die Regierung hat zu wenig dafür getan, den Sport als Teil der Gesundheitsvorsorge und der Rehabilitation zu etablieren.» Doch gerade darin liegt der Ursprung der paralympischen Bewegung. Bereits in den 1940er Jahren hatte der Neurologe Ludwig Guttmann die positive Wirkung von Sport für behinderte Menschen betont. In der englischen Kleinstadt Stoke Mandeville organisierte er 1948 für Kriegsveteranen einen Wettkampf im Bogenschiessen – das Fundament der späteren Paralympics, die seit 1976 auch im Winter stattfinden.

Doch die Entwicklung verlief nicht linear. 1980, nach den Olympischen Sommerspielen in Moskau, weigerte sich die Sowjetunion, auch die Paralympics auszutragen. 1984 lehnte Los Angeles die Paralympics ebenfalls ab. Die Begründung: Dies passe nicht zum makellosen Image der Stadt.

1996 liessen die Organisatoren in Atlanta etliche Sportstätten nach den Olympischen Spielen abbauen, so dass behinderte Athleten in Bauruinen auftreten mussten. «Die Paralympics können nur ein Anstoss sein», sagt Andrew Parsons, der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees. «Der gesellschaftliche Wandel kann Jahrzehnte dauern.»

Immer wieder Rückschläge

Immer wieder gab es Rückschläge. Nach den Sommer-Paralympics 2000 in Sydney erweiterte die australische Regierung die Bauvorgaben für Barrierefreiheit, aber die Sportförderung wurde zurückgefahren. Im Winter 2014 in Sotschi galten die Sportstätten als Musterbauten, doch fernab der russischen Metropolen sind behinderte Menschen bei Gesundheitsvorsorge und Jobsuche weiter im Nachteil. Vor den Sommerspielen in Rio de Janeiro 2016 erarbeitete die brasilianische Regierung ein differenziertes Antidiskriminierungsgesetz, in den Favelas jedoch können Menschen mit Behinderung häufig ihre Wohnungen nicht verlassen.

In westlichen Gesellschaften hat sich das Konzept der Inklusion durchgesetzt, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Im Sport würde das bedeuten, dass Athleten mit und ohne Behinderung von den gleichen Sportstätten, Prämienregeln und Fort- bildungen profitieren. In China sei man davon noch weit entfernt, sagt Stephen Hallett. Auch weil die Regierung unter Xi Jinping kaum noch für Empfehlungen aus der Zivilgesellschaft empfänglich ist.

Inhaltlich wird das Thema in China durch den staatsnahen Behindertenverband dominiert, gegründet 1988 von Deng Pufang, dem Sohn des Reformers Deng Xiaoping. «Diese Organisation ist relativ verschlossen und beschäftigt nur wenige Mitarbeiter mit einer Behinderung», sagt Hallett. Der Verband unterstützte in den vergangenen Jahren die Suche nach paralympischen Trainern und Technikexperten aus Europa.

China möchte auch an den Winter-Paralympics an die Spitze vorstossen. An jenen 2018 in Pyeongchang gewann die Volksrepublik nur eine Medaille – nun, nach drei Tagen in Peking, sind es bereits 16 Medaillen, 6 in Gold. Die positiven Effekte für behinderte Menschen ohne Medaillenchancen dürften sich allerdings in Grenzen halten.

Wenn eine Behinderung nicht mehr die Hauptrolle spielt

(srf.ch)

Noch immer werden Menschen mit Behinderungen im Film, Theater und Tanz selten engagiert. Aber es tut sich etwas – auch in der Schweiz.

Nicole Salathé

«You’re a freak.» Mit diesen Worten wird Schauspieler Peter Dinklage, bekannt aus der Serie «Game of Thrones», im neuen Musicalfilm «Cyrano» verspottet. Dinklage misst 135 Zentimeter und spielt und singt den Titelhelden Cyrano de Bergerac.

«Dass Liebhaber in Film und Fernsehen gutaussehende, weisse Männer sind, ist bloss eine altmodische Hollywood- Idee», sagt Peter Dinklage. Es sei an der Zeit, Klischees zu überdenken. Seine Kampfansage gilt jenen, die Menschen mit Behinderungen nicht achten, ausgrenzen oder gar missbrauchen.


Peter Dinklage in Joe Wrights «Cyrano» als unglücklich verliebter Soldat und Dichter. Universal Pictures International Switzerland, All Rights Reserved

 

Die Sache mit Schneewittchen

So kritisierte Dinklage Disney mit Blick auf die geplante Realverfilmung von «Schneewittchen und die sieben Zwerge ». Die Geschichte von Zwergen, die in einer Höhle leben, sei «verdammt rückständig». Disney bekräftigt nun, kleinwüchsige Menschen beratend hinzuzuziehen.

In der Schweiz leben rund 1.7 Millionen Menschen mit Behinderungen. Weltweit sind es über eine Milliarde. Noch immer werden Schauspielerinnen oder Tänzer mit einer Behinderung äusserst selten engagiert. Und wenn, dann oft für Figuren mit Handicap. Meist werden selbst diese Figuren von Menschen ohne Behinderungen gemimt. In der Fachsprache heisst dieses Vorgehen «Cripping up».

Der Fokus liegt auf der Behinderung

Lucy Wilke, Schauspielerin und Sängerin aus München, bewegt sich wegen einer genetischen Veranlagung mit dem Rollstuhl. Sie relativiert: «Mich persönlich stört ‹Cripping up› nicht, solange sich jemand mit der Rolle richtig auseinandersetzt.»

Wilke ärgert sich aber, dass in Filmen Menschen mit Behinderungen am Ende entweder sterben oder wieder gesund sind. «Selten sind sie einfach da, beschäftigen sich mit etwas ganz anderem und sind eben zufällig auch behindert.»


Julia Roberts spielte 2014 im Film «The Normal Heart» eine Ärztin im Rollstuhl. Im echten Leben braucht die Schauspielerin keinen Rolli. Im Bild ist Roberts bei der Emmy-Verleihung 2014, an der auch der Film ausgezeichnet wurde. IMAGO / ZUMA Wire

 

Die Münchner Kammerspiele machen es vor

Lucy Wilke ist seit 2020 eines der sechs festen Ensemblemitglieder der Münchner Kammerspiele. Intendantin Barbara Mundel probt hier das Stadttheater der Zukunft.

Am Haus lief auch das Projekt «Scores that shaped our friendship» von und mit Lucy Wilke und Pawel Dudus. Die beiden wurden für ihr Stück, das ein fühlsam vom «Anders-Sein» erzählt, mit dem Theaterpreis «Der Faust » ausgezeichnet.


Lucy Wilke und ihre Mutter sind das Duo «blind & lame». Mit dem unverblümten Namen wollen sie das Thema Behinderung direkt abhaken und ihre Musik in den Fokus rücken. IMAGO / Sven Simon

 

«Man fühlt sich hilflos»

Wilke wollte schon früh Schauspielerin werden, Regie führen und Filme machen. Sie bewarb sich zweimal an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film. Zweimal schaffte sie es in die Endrunde. Zweimal wurde sie abgelehnt.

Eine Assistentin habe sie angerufen und gesagt: «Das hat nichts mit der Qualität Ihrer Bewerbung zu tun». Wilke konnte sich ausrechnen, was der wahre Grund war. «Man fühlt sich hilflos, wenn man gegen Wände läuft, sich Mühe gibt, aber es nützt einfach nichts.»

Die Schweiz hinkt hinterher

In der Schweiz wird das Thema Inklusion viel diskutiert: Pro Infirmis etwa hat die Fachstelle «Kultur inklusiv» ins Leben gerufen. Alle Label-Partner verpflichten sich zur ganzheitlichen Inklusion von Menschen mit Behinderungen: als Kulturschaffende, als Publikum und als Mitarbeitende.

Längst werden auch hierzulande Vorstellungen und Museumsführungen etwa mit Audiodeskription und Gebärdensprache angeboten. Doch bei Filmrollen und Bühnenengagements sieht es für Betroffene nach wie vor düster aus.

Eine erste Weiterbildung gibt es seit letztem Jahr an der Accademia Dimitri. Ansonsten sind Möglichkeiten für Schauspiel- und Tanzausbildung an Hochschulen rar, meistens ist «learning by doing» die einzige Option. Die USA oder Grossbritannien sind da fortschrittlicher.

Behinderungen als Chance verstehen

Bühnenerfahrung gesammelt hat auch die gebürtige Freiburgerin Cornelia Jungo. Die Tänzerin im Rollstuhl wurde mit der Glasknochenkrankheit geboren. Um einen Ausgleich zu all den Therapien zu schaffen, nahm sie mit Ende 20 an einem Workshop von «BewegGrund» teil. Der inklusive Verein wurde 1998 von der Tänzerin Susanne
Schneider in Bern gegründet. Ein Schweizer Novum.


Cornelia Jungo (links) im Projekt «Menschen unter sich», einer Zusammenarbeit von «BewegGrund» mit dem Zentrum Paul Klee. Matthias Dömötör / BewegGrund

 

Jungo schwärmt: «Ich gewann die Erkenntnis, dass der Rollstuhl mir meine Bewegungsfreiheit nicht nimmt, sondern zurückgibt. Ich war ein gleichwertiges Mitglied eines Ensembles. Das gab mir Selbstvertrauen.» Seither tanzt Jungo in «BewegGrund»-Produktionen mit.

Mehr Mitsprache gefordert

Bei der letzten Produktion wurde die Choreografin Vanessa Cook auf sie aufmerksam. Nun tanzt Cornelia Jungo erstmals mit Profis. Es braucht Mut, Geduld und Hartnäckigkeit, um sichtbar zu sein, sagt sie. Und es brauche Mut
in der Politik, an Hochschulen, an Theatern und im Filmbusiness.

Cornelia Jungo wünscht sich, «dass wir Menschen mit Behinderungen endlich mitdiskutieren können.» Denn Entscheidungen fällen auch heute noch weitgehend Menschen ohne Behinderungen.

Barrieren sind dazu da, sie zu überwinden

(Procap / DasMagazin)

Knapp acht Jahre nach dem Inkrafttretender Uno-Behindertenrechtskonvention [BRK) in der Schweiz findet eine erste Überprüfung statt. Da es bei der Umsetzung noch immer viel Handlungsbedarf gibt, muss die Schweiz wohl mit einer Rüge rechnen. Für das Procap Magazin Anlass, über die Bedeutung der BRK und in diesem Zusammenhang über die Menschenrechte zu reflektieren.

Text Sonja Wenger Illustration Jan Zablonier

Laut dem US-Wetterarchiv war es am Freitag, dem io. Dezember 1948, in New York trocken. Die Temperatur betrug etwas über i Grad Celsius, und der Himmel war leicht bewölkt. Für den Rest der Welt ging jedoch die Sonne auf. An jenem Tag verabschiedeten die Vereinten Nationen (Uno) in New York die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In 3o Artikeln wurde ein Wertekatalog festgelegt, der für alle Menschen gelten und sie vor will-kürlicher Gewalt schützen soll. So heisst es im ersten Satz von Artikel 1: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.»

Mit ihrer Erklärung bekräftigte die damals noch junge Weltorganisation – die Uno war Mitte 1945 kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges gegründet worden – ihren Glauben an die Würde des Menschen. Gleichzeitig versprach sie, bessere Lebensbedingungen für alle Menschen zu fördern.

In den folgenden Jahrzehnten entstand zu diesem Zweck eine Vielzahl von Uno Sonderorganisationen, die sich beispielsweise für Flüchtlinge oder für das Recht auf Nahrung und Gesundheit einsetzen. Mit internationalen Pakten, Verträgen und Konventionen versucht die Uno zu erreichen, dass ihre 193 Mitglieder – alles souveräne Staaten – die Menschenrechte in geltendes Recht umsetzen. So gibt es unter anderen einen Uno-Sozialpakt, eine Uno-Kinderrechtskonvention, eine Antifolterkonvention und seit 2006 das Übereinkommen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, abgekürzt als Behindertenrechtskonvention (BRK).

Bedeutung und Inhalt

Die Bedeutung der Uno-BRK für die ganze Gesellschaft kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Je nach Definitionsgrundlage leben zwischen 15 und 20 Prozent der Weltbevölkerung mit irgendeiner Form von Behinderung. Sie sind damit die grösste Minderheit der Welt.

Doch bis heute werden Menschen mit Behinderungen aufgrund von Tabus oder Vorurteilen gesellschaftlich ausgegrenzt. Noch immer werden sie etwa beim Zugang zu Ausbildungen oder zum sogenannten ersten Arbeitsmarkt eingeschränkt oder diskriminiert. Viele Strukturen, etwa bei der Architektur, im Ausbildungssystem oder im öffentlichen Verkehr, sind nicht an ihre Bedürfnisse angepasst oder werden nur zögernd verändert. Und nicht nur in armen Ländern sind Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich oft von Armut betroffen.

Die Uno-BRK beinhaltet deshalb sowohl bürgerliche und politische wie auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Ihr Geltungsbereich ist sehr weit und umfasst beispielsweise:

– das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung
– das Recht auf persönliche Mobilität
– das Recht auf Zugang zu Informationen
– das Recht auf Bildung
– das Recht auf Gesundheit
– das Recht auf Arbeit und Beschäftigung
– das Recht auf Barrierefreiheit

Wichtig ist: Mit der Uno-BRK wurden keine neuen Rechte oder Sonderrechte geschaffen, sondern die allgemein gültigen Menschenrechte präzisiert und auf die Situation von Menschen mit Behinderungen angepasst. Bisher haben 164 Uno Mitgliedstaaten die BRK unterschrieben. Zweck der Uno-BRK ist es, Menschen mit Behinderungen die «volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft» zu ermöglichen. Es sollen also die vielfältigen Barrieren in der Gesellschaft, in der Öffentlichkeit wie auch in den Köpfen der Menschen überwunden respektive abgebaut werden. Oder um den Westschweizer Philosophen und Schriftsteller Alexandre Jollien zu zitieren, der seit Geburt mit einer Cerebralparese lebt: «Wir Menschen müssen unseren Vorurteilen den Hals umdrehen.»

Die Schweiz und die Uno-BRK

In der Schweiz trat die Uno-BRK im Mai 2014 in Kraft. «Mit der Annahme dieser Konvention verpflichtete sich die Schweiz, die Uno-BRK umzusetzen und ihre Gesetzgebung entsprechend anzupassen», sagt Martin Boltshauser, Leiter Rechtsdienst von Procap Schweiz. «Sie verpflichtete sich allerdings nicht auf eine schnelle Umsetzung.» Dadurch habe die Regierung einen grossen zeitlichen Spielraum. «Was das bedeutet, zeigt sich sehr gut bei jenen Anpassungen, die im öffentlichen Verkehr nötig wären. Hier wurde die Umsetzungsfrist, die derzeit 2024 ist, bereits zweimal verlängert.»

Der Grund: Bei vielen der geforderten Massnahmen kommt in der Schweiz die in der Verfassung festgehaltene Verhältnismässigkeit zur Sprache. Hierbei werden die Kosten, der Aufwand oder die Dringlichkeit für eine Anpassung oder eine Massnahme dem direkten Nutzen gegenübergestellt. Dies gilt auch dann, wenn eine Forderung gesetzlich und rechtens ist.

Dennoch sind die Grundlagen der Behindertengleichstellung in der Schweiz breit abgestützt. Neben der Uno-BRK gelten die Schweizerische Bundesverfassung und das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), welches vor allem beim Bauen, im öffentlichen Verkehr und bei staatlichen Dienstleistungen zum Tragen kommt. Hinzu kommen verschiedene kantonale Behindertenrechtsgesetze. Das föderalistische System der Schweiz erlaubt es den einzelnen Kantonen, weiter zu gehen, als es auf Bundesebene vorgegeben wird. So hat der Kanton Genf das politische Wahlrecht für Personen angenommen, die einen Beistand haben. Die Kantone Basel-Stadt und Neuenburg haben ein eigenes Behindertengesetz verabschiedet. Und in mehreren anderen Kantonen wurde bereits die Subjekfinanzierung eingeführt oder steht zur Diskussion. Es ist anzunehmen, dass dieser Prozess in den nächsten Jahren an Dynamik zunehmen wird.

Schattenbericht und Überprüfung

Doch auch wenn die kantonalen Bemühungen zu begrüssen sind: Kontrolle ist nötig. Aus diesem Grund überprüft ein Uno-Ausschuss jedes Jahr einige Staaten und fragt nach, wie es mit der Umsetzung aussieht. Im März 2022 wird die Schweiz erstmals seit der Einführung der Uno-BRK zum Stand der Dinge befragt.

Die Bundesregierung vertritt hierbei die Haltung, dass die Umsetzung bereits weit fortgeschritten ist. So sei das Verbot, Menschen mit Behinderungen zu diskriminieren, in der Verfassung festgelegt. Und die Invalidenversicherung (IV) setze mit ihrer Unterstützung von Betroffenen und etwa dem Grundsatz «Eingliederung in den Arbeitsmarkt vor Rente» bereits viele Elemente der Uno-BRK um.

Anders sieht es Inclusion Handicap (IH), Dachverband der meisten Schweizer Behindertenorganisationen. Im Sommer 2017 verfasste IH einen sogenannten Schattenbericht zum «Ersten Staatenberichtsverfahren der Schweiz vor dem Uno Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen». Darin wird detailliert gezeigt, dass in der Schweiz noch viel Handlungsbedarf bei der Umsetzung der Uno-BRK besteht (siehe auch das Interview mit Caroline Hess-Klein von IH auf Seite 12). Besonders kritisiert wird dabei das Fehlen einer umfassenden Strategie des Bundes zur Umsetzung der Uno-BRK. Es hapert aber auch bei den Rechten auf Selbstbestimmung, Arbeit, Bildung oder dem Schutz vor Diskriminierung durch Private. So gibt es in der Schweiz nach wie vor nicht genug Möglichkeiten bei der freien Wahl der Wohnform und des Wohnsitzes. Und auch der Zugang zur Justiz oder zu politischen Rechten ist nicht für alle gegeben.

Ein weiterer Kritikpunkt von IH ist die fehlende Unterschrift der Schweiz unter das sogenannte Fakultativprotokoll respektive Zusatzprotokoll der Uno-BRK. Mit einer Zustimmung zum Zusatzprotokoll könnte die Umsetzung wesentlich schneller erfolgen, weil dann ein Einzelklagerecht bestehen würde. Eine betroffene Person kann mit dem Zusatzprotokoll ihre Rechte aus der Uno-BRK direkt beim Uno-Ausschuss einklagen, wenn sie zuvor bei allen rechtlichen Instanzen ihres Landes abgewiesen worden ist.

Der vollständige Text des Schattenberichts von 2017 sowie der aktualisierten Version 2022, die sich derzeit noch in Bearbeitung befindet, finden Sie auf der Website von Inclusion Handicap.

Procap und die Uno-BRK

Grundsätzlich soll und kann mit der Uno-BRK die vollständige Inklusion von Menschen mit Behinderungen in unsere Gesellschaft ermöglicht werden. Allerdings reichen Gesetze allein dafür nicht aus. Für eine vollumfängliche Inklusion aller Menschen braucht es ein anderes Gesellschaftsmodell mit einem anderen Wertesystem und ohne jenes Leistungsdenken, das heute einen grossen Teil unseres Handelns bestimmt.

Es braucht aber auch jene, die für Menschen mit Behinderungen kämpfen, indem sie wie Procap etwa Fachberatung im Bereich Rechtsdienst oder Sozialversicherungsrecht oder Dienstleistungen im Bereich Bauen, Reisen und Sport oder Bildung und Sensibilisierung anbieten. Zwar werden nicht alle dieser Angebote direkt als Förderung der Uno-BRK angesehen. Doch gerade die konkreten rechtlichen oder sozialpolitischen Errungenschaften, die Procap in den vergangenen Jahren durchsetzen konnte, sind im Alltag der Betroffenen spürbar und verhelfen zu mehr Selbstbestimmung. Dazu gehören unter anderem die Erhöhung der Mietzinsmaxima bei den Ergänzungsleistungen oder die Verbesserungen beim Intensivpflegezuschlag. Der Kampf für Inklusion hat also viele Formen – aber nur ein Ziel, für das wir noch einmal Alexandre Jollien zitieren: «Für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu kämpfen, bedeutet, für das Wohl der Menschheit zu kämpfen.»


Quellen
www.edi.admin.ch > Uno-Konvention
www.inclusion-handicap.ch > Schattenbericht
www.behindertenrechtskonvention.info
www.planet-wissen.de
Aktionsplan UN-BRK 2019-2023 von INSOS, CURAVIVA und VAHS
https://tingurl.com/UnTrucJollien: «J’ai 1 truc ä dire» («Eins möchte ich noch sagen»). Video mit Alexandre Jollien.


Aktion Uno-BRK am 9. März 2022
Kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe hat der Uno-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen festgelegt, dass die Schweiz definitiv im März in Genf geprüft wird. Zu diesem Anlass wird Inclusion Handicap in Zusammen- arbeit mit ihren Mitgliedern am 9. März 2022 eine Aktion in Bern organisieren.

Aktualisierte Informationen zu den geplanten Veranstaltungen von Procap Schweiz und der Procap-Sektionen finden Sie unter www.procap.ch/uno-onu.

UNO-Behindertenrechtskonvention – Dafür kämpfen wir!

(pro-audito.ch)

Am 13. Dezember 2006 verabschiedete Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO), Behindertenrechtskonvention (BRK) . Die Konvention wurde von der Schweiz ratifiziert und ist seit 2014 in Kraft. Mit dem Beitritt zum Übereinkommen hat sich die Schweiz verpflichtet, Hindernisse zu beheben, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, sie gegen Diskriminierungen zu schützen und ihre Inklusion und ihre Gleichstellung in der Gesellschaft zu fördern.

Ausgangslage

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Die Flagge der Vereinten Nationen

 

Der UNO-Ausschuss wird die Umsetzung der BRK in der Schweiz in seiner Session vom 7. bis 25. März 2022 überprüfen. Die Schweiz musste bereits jetzt, die in der sog. « List of Issues » aufgeworfenen Fragen beantworten. Unter anderem anhand dieser Antworten wird der UNO-Ausschuss Empfehlungen zuhanden der Schweiz « Concluding Observations» verabschieden. Darin hält er fest, inwiefern und in welchen Bereichen die Konvention in der Schweiz umgesetzt ist und wo Massnahmen zu ergreifen sind.

Handlungsbedarf

Viele der Verpflichtungen sind häufig zu offen und allgemein formuliert. Ebenfalls wird immer wieder versäumt, den Verpflichtungen zeitgerecht und umfassend nachzukommen. In der Schweiz sind für die Umsetzung der UNO-BRK der Bund, die Kantone und die Gemeinden zuständig. Dies führt dazu, dass die Umsetzung regional sehr unterschiedlich ist.

Unserer Forderungen für eine bessere Inklusion schwerhöriger Menschen in der Schweiz:

1. Barrierefreiheit

Barrierefreiheit muss in öffentlichen Gebäuden, genauso wie in privaten Institutionen, dem Arbeitsplatz und dem öffentlichen Verkehr gewährleistet werden. Dazu gehören funktionstüchtige Höranlagen, barrierefreie Kommunikationssysteme, Hilfsmittel am Arbeitsplatz, wie auch visuelle Informations- und Alarmsysteme.

2. Zugang zu Hörgeräten, Hilfsmitteln und Assistenz.

Hörgeräte, Hilfsmittel und Assistenz sollen Menschen mit einer Schwerhörigkeit unabhängig von Job, AHV/IV oder finanziellen Mitteln niederschwellig zugänglich sein.

3. Zugänglichkeit von Informationen und Medien.

Informationen zu Nachrichten, politischem Geschehen und Kultur soll sichergestellt werden. Der konsequente Einsatz von Untertiteln, der Verzicht auf Hintergrundmusik, sowie ein gut sichtbarer Mund in Berichterstattungen sind unabdingbar.

4. Partizipation

Die Stimme von Menschen mit einer Schwerhörigkeit soll in politischen Prozessen ein grösseres Gewicht erhalten, speziell bzgl. dem Abbau von Barrieren.

Weitere Informationen

− Bericht zum Handlungsbedarf – Inclusion Handicap

– Erster Bericht der Schweizer Regierung über die Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte der Menschen mit Behinderungen

– Studie: Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR)

– Studie Handlungsbedarf aufgrund der UNO-Behindertenrechtskonvention im Kanton Zürich (ZHAW)

– Demonstration am 09. März 2022 – 12.45 – Bern, Waisenhausplatz