Gebärdensprache in der Versfassung Verankern

(Tessiner Zeitung)

Der Grosse Rat setzt sich einstimmig für die Inklusion von Hörbehinderten ein. Wenn das Volk zustimmt, folgt das Tessin den Kantonen Genf und Zürich und macht Gebärdensprache amtlich


Nicht einfach Zeichen, sondern eine echte Sprache mit eigener kultureller und linguistischer Identität

 

von Antje Bargmann

Unter Applaus ist am Montag im Grossen Rat ein historischer Schritt im Tessin zur Inklusion von Menschen mit Behinderung vollzogen worden.

Einstimmig fiel der Beschluss, dass die italienische Gebärdensprache in der Verfassung anerkannt und verankert wird (Artikel 13a). Ein Paradigmawechsel, wie Sozial- und Gesundheitsdirektor Raffalele De Rosa betonte: Es liegt in Zukunft nicht mehr in der Verantworung des Gehörlosen, mit dem Staat einen Kommunikationsweg zu finden und mit Informationen versorgt zu werden. Sondern es wird nun Aufgabe der Kantons- und Gemeindeverwaltung sein, alle Voraussetzungen zu treffen, um sich auch in italienischer Gebärdensprache mitteilen zu können. Da es sich um eine Verfassungsänderung handelt, müssen allerdings noch die Stimmbürger ihr Einverständnis geben.

Die Entscheidung des Parlaments basiert auf einer Motion von Raoul Ghisletta (SP), der auch schon andere Initiativen vorweggingen. Diese gründet auf der Forderung des Schweizer Gehörlosenbundes, die Gebärdensprache als offizielle Sprache anzuerkennen, so wie es in Neuseeland seit 2006 der Fall ist. 10’000 Gehörlose leben ‚in der Schweiz, davon rund 500 geschätzt im Tessin. Insgesamt wird die Zahl der Hörbehinderten in der Schweiz auf eine Million geschätzt. Betroffene gelten in vielen Bereichen des Lebens – wirtschaftlich, sozial, kulturell und gesundheitlich – aufgrund der Kommunikationsprobleme als benachteiligt. Die Kantone Genf und Zürich haben den Anfang gemacht und die Gebärdensprachen (die französische bzw. Deutschschweizer Version) inzwischen in ihren Verfassungen formal anerkannt. Auch in Vaud und Bern ist der Prozess in Form von Initiativen politisch angelaufen. Neuchätel hat die Gebärden- sprache zwar nicht in der Verfassung, aber gesetzlich verankert. „Es geht nicht einfach um eine Zeichensprache“, betonte Raoul Ghisletta in seinem Redebeitrag vor dem Parlament am Montag, „sondern um eine vollständige Sprache mit ihren eigenen komplexen Regeln“. Roberta Passardi von der FDP ergänzte, dass die Gebärdensprache eine eigene kulturelle und linguistische Identität hat, ihre Nutzung also kein Defizit bedeutet. Und Danilo Forini, SP (und Direktor der kantonalen Pro Infirmis) betonte, dass eine gehörlose Person, die im Alltag vollständig und überall die Gebärdensprache nutzen könnte, quasi gar keine Einschränkungen mehr hätte. Die Behinderung ergebe sich also ausschliesslich aus dem Umfeld.

Welche grundlegende Bedeutung die Gebärdensprache für Bildung, geistige Entwicklung und gesellschaftliche Integration hat, ist im Kommissionsbericht, der auf Gesprächen mit Experten vom Gehörlosenbund und der Pro Infirmis basiert, genauer erläutert. Demnach müssen gehörlose Kinder unbedingt als Grundlage über eine Muttersprache verfügen (die in dem Fall die Gebärdensprache ist), um eine Zweitsprache, wie im Tessin das Italienisch, erlernen zu können. Andernfalls, ohne eine Muttersprache, könnten sich die Bereiche im Gehirn, die für Sprache zuständig sind, nicht richtig entwickeln. Damit beispielsweise ein gehörloser Erwachsener einen normalen Text lesen könne, bräuchte er immer eine eigene Bezugssprache, um diesen zu verstehen. Es würde nicht ausreichen, den Text zu sehen. Viele Erwachsene mit Hörbehinderung würden daher im Alltag oft vor Problemen stehen, da sie geschriebene Texte nicht immer in ihrer ganzen Bedeutung erfassen könnten. Hier würde es beispielsweise helfen, wenn Textinformationen von Videos in Gebärdensprache begleitet würden, heisst es in dem Bericht.

Doch wie könnte die Praxis im Tessin aussehen? Die Umsetzung wird voraussichtlich Zeit brauchen (siehe Artikel unten). Der neue Verfassungsartikel 13a zur „Inklusion von Menschen mit Behinderung und Anerkennung der Gebärdensprache“ beinhaltet unter anderem: (1) Der Kanton und die Gemeinden berücksichtigen die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und deren Familien. (2) Sie treffen die erforderlichen Massnahmen, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten und ihre soziale, erzieherische, berufliche, politische, sportliche und kulturelle Entwicklung zu fördern. (…) (4) Menschen mit Hörbehinderungen, Taubblindheit oder Sprachbehinderungen haben das Recht, im Verkehr mit den Verwaltungen und Dienststellen des Kantons, der Gemeinden und anderer öffentlicrechtlicher Institutionen die Gebärdensprache zu verwenden. Im Parlament wurde betont, dass es seitens des Kantons auch schon heute Bemühungen gibt, allen Menschen Zugang zu wichtigen Informationen zu ermöglichen. So würden die Pressekonferenzen auf dem Youtube-Kanal mit Untertiteln übertragen.

Über Tabus rund um Sexualität und Behinderung

(Luzerner Zeitung)

Sexualität ist ein Grundrecht, doch für Behinderte oft schwer zugänglich. Das war Thema an einem Podium in Luzern.

Salome Erni

«Das Ausleben der Sexualität ist ein Grundrecht. Nur scheint das nicht angekommen zu sein, wenn es um Menschen mit Behinderungen geht», sagt die 26-jährige Studentin Linda Halter. Sie nahm gestern Abend an einem Podium der Organisation Procap Zentralschweiz unter dem bewusst provokanten Titel «Sexualität und Behinderung – doppeltes Tabu oder doppelt so gut» als Auftakt zu einer Themenreihe teil.

Jahn Graf, berühmt für seine Moderation der Paralympics im SRF, leitet die Diskussion mit (auch queeren) Betroffenen, mit Fachkräften und einem Elternteil. Unter den Podiumsgästen befindet sich der 31-jährige Louis Amport, der ebenfalls im Rollstuhl sitzt und als Fachperson Mobilitätseinschränkung arbeitet. Er spricht auf der kleinen Bühne im Marianischen Saal in Luzern vor rund 50 Anwesenden und 20 virtuellen Gästen. Im Gespräch vorab sagt er: «Viele fragen sich: Wie funktioniert Sexualität mit einer Behinderung? Oder sogar: «Geht das überhaupt? Da fehlt viel Wissen.»

Übergriffiges Verhalten ein aktuelles Problem

Dass an der Podiumsdiskussion mit Tabus aufgeräumt werden soll, zeigt bereits ein Video in den ersten Minuten. Denn es ist nicht die explizite Sexszene zweier Menschen mit Handicap, die im Anschluss kontrovers diskutiert wird. Vielmehr ist es die Grenzüberschreitung des gefilmten Pflegers, denn wie Halter betont, sei sexuell übergriffiges Verhalten in Institutionen eine aktuelle Problematik. Dort wird das Thema der Sexualität aber immer wichtiger. In der Stiftung für Schwerbehinderte Luzern (SSBL) ist beispielsweise seit 2019 ein «Erlebniszimmer» eingerichtet, das unter anderem mit einem Doppelbett möbliert ist. Im Gegensatz zum eigenen Zimmer ist dort auch eine bezahlte sexuelle Dienstleistung, beispielsweise durch eine Berührerin oder einen Berührer, möglich.

Die Podiumsrunde fordert, dass solche Konzepte öffentlich sein sollen, damit der Diskurs und die Möglichkeiten zur selbstbestimmten Sexualität weite Verbreitung finden. Im Finanziellen ist aber eine grosse Hürde versteckt, denn oft reicht das knappe Budget nicht aus. Um sich sexuelle Dienstleistungen leisten zu können, müssen Menschen mit einem Handicap vielfach auf anderes verzichten.

Elternschaft trotz Behinderung?

Zudem betont Amport: «Nur weil sich Personen sprachlich oder körperlich nicht ausdrücken können, heisst das nicht, dass sie keine Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung haben.» Für Angehörige sei es in solchen Fällen oft schwierig, die Anliegen zu kennen und dafür einzustehen. Teilweise würden Eltern sogar gegen sexuelle Kontakte argumentieren. Halter empfiehlt deshalb dringend, in solchen Situationen Drittpersonen beizuziehen. Denn das Ausleben der Sexualität solle nicht nur jenen vorbehalten bleiben, die ihr Recht selber durchsetzen können.

Auch Eltern- und Schwangerschaft wird angesprochen. Während Frauen ohne Kinderwunsch und ohne Beeinträchtigung immer noch meist Stirnrunzeln entgegenschlägt, häufensichbei Frauenmit Behinderungen oft Zweifel an der Fähigkeit, Mutter zu sein. Zwar müsse die gesundheitliche Situation berücksichtigt werden, doch heute gebe es viele Hilfestellungen für Eltern mit Beeinträchtigungen, so Halter

Die Teilnehmenden der Podiumsrunde versuchen, mit ihrem Engagement ein anderes Bild von Menschen mit Beeinträchtigungen und ihren Zugang zur Sexualität zu vermitteln. Dass das unverkrampft und auch mit Lachen beim Publikum im Saal geht, beweist der Anlass. Amport hält mit einem Augenzwinkern schliesslich fest: «Probieren geht über Studieren.»

Nicht für Flüchtlinge mit Behinderung eingerichtet

(beobachter.ch)


Helfer unterstützen einen Mann im Rollstuhl beim Überqueren des Irpin-Flusses in der Ukraine.(08.März 2022) Bild: Getty Images

 

Von Andrea Haefely

Flüchtlinge, die bei ihrer Ankunft nicht privat unterkommen, werden zuerst einem der schweizweit 21 Bundesasylzentren zugeteilt. Zuständig für diese Zentren ist das Staatssekretariat für Migration (SEM). Für Flüchtlinge mit Behinderung gestaltet sich die Unterbringung dort besonders schwierig.

Das SEM liess auf Anfrage des Beobachters verlauten: «Ganz generell und holzschnittartig kann vielleicht gesagt werden, dass in den regulären Bundesasylzentren die gängigen Normen berücksichtigt werden, um eine Unterbringung von Personen mit üblichen Beeinträchtigungen zu ermöglichen.»

Felicitas Huggenberger, Direktorin der Behindertenorganisation Pro Infirmis, sieht das anders.

Beobachter: Frau Huggenberger, mit dem Flüchtlingsstrom aus der Ukraine sind auch Menschen mit Behinderung gekommen. Ist die Pro Infirmis involviert?

Felicitas Huggenberger: Ja. Wir haben von Verwandten von ukrainischen Flüchtlingen Anfragen erhalten, weil die Bundesasylzentren nicht für Menschen mit Behinderung eingerichtet sind. Dabei geht es nicht nur um eingeschränkte Mobilität, sondern auch um kognitive Einschränkungen, Sehbehinderungen, spezifische Pflegebedürfnisse. Selbst einen Dolmetscher in Gebärdensprache zu organisieren, ist für die Bundesasylzentren schwierig.

Heisst das, dass die Bundesasylzentren nicht den im Behindertengleichstellungsgesetz vorgeschriebenen Anforderungen entsprechen?
Wir haben die Beobachtung gemacht, dass die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung vergessen gehen. Deshalb nehmen wir an, dass die Bundesasylzentren diesbezüglich nicht nur in Einzelfällen, sondern generell Defizite haben.

Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit diesen Einrichtungen?
Wir arbeiten mit den Flüchtlingshilfe-Organisationen zusammen und versuchen, die Zentren möglichst pragmatisch zu unterstützen. Wegen des aktuellen Ansturms werden Mankos besonders sichtbar.

Stimmt die Wahrnehmung, dass die Pro Infirmis Aufgaben übernehmen muss, die eigentlich bei den Asylzentren des Bundes lägen?
Ja. Die Zentren sind überfordert. Deshalb versuchen wir, sie so gut wie möglich zu unterstützen. Aber auch wir können nicht in allen Fällen helfen.

Sind bei der Pro Infirmis in diesem Zusammenhang auch Beschwerden eingegangen?
Ich würde es nicht Beschwerden nennen. Es sind vielmehr verzweifelte, hilfesuchende Menschen, die sich an uns wenden. Wir bearbeiten derzeit rund 50 Fälle, die wegen ihrer Komplexität sehr aufwendig sind. Und das Problem wird sich wohl noch verschärfen. Wir erwarten, dass die Anzahl Flüchtlinge mit Behinderung im Vergleich zur gesamten Flüchtlingszahl eher noch zunehmen wird.


Felicitas Huggenberger, Direktorin der Behindertenorganisation Pro Infirmis. Quelle: Privat

 

Bald schon könnten Blinde einfacher abstimmen

(Tages-Anzeiger)

Motion beschlossen
Eine Schablone soll helfen, die Stimmzettel allein auszufüllen.
Alessandra Paone

In den nächsten Wochen werden die Unterlagen für die Abstimmungsvorlagen vom 15. Mai in die Schweizer Haushalte flattern. Für die meisten Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ist der Vorgang simpel: Man schreibt an markierter Stelle Ja oder Nein, und gut ist. Nicht aber für Menschen mit einer Sehbehinderung. Diese benötigen Hilfe, um den Abstimmungs- oder Wahlzettel ausfüllen zu können. Meistens erledigen das Familienmitglieder für sie. Das Stimmund Wahlgeheimnis ist damit aber nicht gewahrt.

Das soll sich nun ändern. Der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen (SZBLIND) hat eine Abstimmungsschablone entwickelt, die es sehbehinderten Menschen ermöglicht, zu erfühlen, wo für welche Vorlage ein Ja oder Nein eingetragen werden muss. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats begrüsst diese Neuerung einstimmig und hat am Donnerstag eine entsprechende Motion beschlossen. Im Sommer wird sich der Nationalrat erstmals mit diesem Anliegen beschäftigen.

260’000 Menschen betroffen

Der Freisinnige Andri Silberschmidt gab den Anstoss dazu. Der Verein sei mit dieser Idee auf ihn zugekommen, sagt er. «Mir war es gar nicht bewusst, dass Menschen mit einer Sehbehinderung ihre politischen Rechte nicht vollständig autonom und selbstbestimmt ausüben können.» Seit vergangenem Oktober befasse er sich mit dem Thema und habe auch die Bundeskanzlei einbezogen. Diese Zusammenarbeit und die Unterstützung aller Fraktionen in der Staatspolitischen Kommission dürften die Chancen erhöhen, dass die Motion überwiesen wird.

Konkret sieht die technische Lösung, die nur für nationale Abstimmungen funktioniert, wie folgt aus: Dank standardisierter Elemente kann die sehbehinderte Person den Stimmzettel durch Abtasten identifizieren und korrekt in die Abstimmungsschablone einlegen. Danach kann siein die ausgestanzten Feldchen Ja oder Nein schreiben.

In der Schweiz leben rund 260’000 stimmberechtigte Menschen mit einer Sehbehinderung. Der SZBLIND rechnet damit, dass davon 80’000 die Abstimmungsschablone nutzen werden. Die anderen würden sich von der Familie helfen lassen oder ganz auf eine politische Partizipationverzichten, sagt Jan Rhyner vom SZBLIND. Der Verein schlägt vor, dass für die Finanzierung der Schablone der Bund aufkommt. Rund 50 Franken würde ein Set kosten. «So viel sollte das Stimmund Wahlgeheimnis einer sehbehinderten Person dem Staat wert sein», sagt Rhyner.

Ausserdem handle es sich um einmalige Ausgaben, da man die Schablone immer wieder verwenden könne. Rhyner ist sich bewusst, dass die entwickelte Schablone nur eine punktuelle Verbesserung bei nationalen Abstimmungen darstelle. Damit Sehbehinderte gänzlich autonom am politischen Prozess teilnehmen könnten, brauche es zwingend ein barrierefreies E-Voting in allen Phasen der politischen Teilhabe.

«Die Bevölkerung wird hinters Licht geführt»

(Surprise Strassenmagazin)

Sozialversicherungen Die IV berechnet Renten falsch und Bundesrat Alain Berset redet sich heraus. Rechtsprofessor Thomas Gächter ist entsetzt.
TEXT UND INTERVIEW ANDRES EBERHARD

Unlängst sorgten falsche IV-Gutachten für einen veritablen Skandal. Ärztinnen verdienten Millionen, indem sie Gefälligkeitsgutachten für die IV erstellten, in denen sie Kranke gesundschrieben. Diesen Vorwurf konnten Anwältinnen und andere Fachleute erhärten. Das Parlament beschloss vor knapp zwei Jahren einige Massnahmen, die das Problem mehr schlecht als recht lösten – etwa die Pflicht zu Tonaufzeichnungen bei den Gutachtergesprächen.

Nun folgt bereits der nächste Skandal: Mit einem Trick rechnet die IV die Renten klein. Massgebend für die Höhe der Renten ist der IV-Grad. Dieser drückt aus, zu wieviel Prozent jemand arbeitsunfähig ist. Der IV-Grad wiederum berechnet sich durch einen Vergleich: Das Einkommen, das die Person als Gesunder verdient hatte, wird dem Einkommen gegenübergestellt, das diese trotz Invalidität erreichen könnte. Letzteres muss in aller Regel geschätzt werden. Zu diesem Zweck greift die IV auf Lohntabellen des Bundesamtes für Statistik (BfS) zurück. Diese sind für die IV aber nicht geeignet.

Erstens spiegeln die Tabellen dieser Lohnstrukturerhebung (LSE) die Löhne von Gesunden wider, nicht von Invaliden. Gesunde verdienen 10 bis 20 Prozent mehr als Kranke, wie zwei unabhängig voneinander durchgeführte Studien von 2021 zeigten. Zweitens enthalten vermeintliche Tieflohnkategorien auch verhältnismässig gut bezahlte, körperlich anstrengende Jobs (z.B.Strassenarbeiten). Diese können IV-Bezügerkinnen nur sehr selten weiter ausüben. Und drittens weisen die Tabellen erhebliche Mängel auf. So sind Monatslöhne bis 13 000 Franken in der Kategorie der «Hilfsarbeiteeinnen» enthalten. Dazu kommt es, weil das BfS die Daten bei den Arbeitgebenden erfragt. Machen diese ungenaue Angaben -wie «Mitarbeiterkin» oder «Angestellter» -,landen auch Spitzenverdienerkinnen in der Tieflohnkategorie. Die Folge dieser systematischen Rechenfehler: Der IV-Grad sinkt, und damit die Rentenleistungen. Viele Teilrenten sind zu tief, zahlreiche Gesuche werden ganz abgelehnt. Denn erst ein IV-Grad von mindestens 40 Prozent berechtigt zu einer Teilrente. Anspruch auf eine Eingliederungsmassnahme oder Umschulung hat, wer zu mindestens 20 Prozent arbeitsunfähig ist.

Das Problem ist dem Bundesamt für Sozialversicherungen mindestens seit 2015 bekannt. Damals gab das Bundesgericht dem Amt zu verstehen, dass es eine präzisere Methode ausarbeiten solle. Passiert ist bis heute nichts.

Nun, da der Skandal an die Öffentlichkeit kommt, forderte Gesundheitsminister Alain Berset vom Ständerat: «Geben Sie uns jetzt etwas Zeit.» Man müsse, so Berset, erst die Folgen der neuen IV-Verordnung auf die Praxis abwarten. Diese ist seit Anfang Jahr in Kraft, zementiert aber die unfaire Berechnungsmethode. Dabei hatten in der Vernehmlassung sämtliche Parteien, zahlreiche Kantone, Organisationen sowie Wissenschaftlerinnen auf den Miss-stand aufmerksam gemacht.

Thomas Gächter, die IV-Renten sind systematisch zu tief, lautet das Fazit von zwei unabhängigen Untersuchungen. Sie schrieben dem Bundesrat daraufhin einen Protestbrief. Haben Sie eine Antwort erhalten?
Thomas Gächter: Ja, eine sehr freundliche sogar. Inhaltlich waren das allerdings eher Ausflüchte und Nebelpetarden. Bundesrat Berset schrieb uns beispielsweise, dass es künftig häufiger zur sogenannten Parallelisierung von Einkommen kommen soll. Das ist ein Instrument, mit dem die unpräzise Berechnung zumindest bei tiefen Einkommen teilweise korrigiert werden kann. An konkreten Hinweisen, dass dies in der Praxis tatsächlich häufiger gemacht werden soll, fehlt es allerdings. Die Berechnung mittels absurder hypothetischer Einkommensvergleiche hingegen wurde im Verordnungstext ausdrücklich verankert.

Nach politischem Druck sagte Alain Berset im Parlament, eine alternative Berechnung der IV-Renten brauche Zeit. Seit Anfang Jahr gilt eine neue IV-Verordnung, jetzt müssten die Folgen abgewartet werden.
Das Problem ist der IV seit vielen Jahren bekannt. Zeit wäre mehr als genug vorhanden gewesen. Und von den Punkten, die wir kritisieren, ist in der neuen Verordnung kein einziger behoben worden. Das Problem wird sich eher verschärfen. Die Zahl jener, bei denen die Rechenfehler direkte Auswirkungen auf die IV Rente haben, wird steigen. Denn beim sogenannten stufenlosen Rentensystem wird neu weniger gerundet, es wird aufs Prozent genau gerechnet.


Weniger IV-Rentnerinnen
Die Wohnbevölkerung der Schweiz wuchs in den letzten 20 Jahren um 1,4 Millionen
Menschen. Die Anzahl der IV-Rentner*innen veränderte sich jedoch kaum.

 

Kürzlich hat das Bundesgericht die offensichtlich falsche Berechnungspraxis geschützt. Wie kann das sein?
Das Bundesgericht prüft nur Einzelfälle, und dort nur die rechtlichen Grundsätze. Die waren in diesem konkreten Fall offenbar
eingehalten worden. Die fraglichen Lohntabellen hat das Bundesgericht im Ausnahmefall stets gebilligt. Das Problem ist, dass
die Tabellen in der Praxis nicht die Ausnahme sind, sondern die Regel. Das Bundesgericht hätte aber schon Möglichkeiten gehabt,
zum Beispiel den Fall ans kantonale Gericht zurückzuweisen oder, eher ungewöhnlich, gleich selbst einzugreifen.

Die beiden SP-Richter versuchten, Verbesserungen zu erreichen. Sie wurden von den beiden SVP-Richterinnen und dem CVP- Mann überstimmt. War dies ein politischer Entscheid?
Ich denke nicht, dass die Parteien direkt Einfluss nehmen. Es geht um Werthaltungen. Die einen sagen: Zentrale Werte des sozialen Sicherungssystems werden nicht mehr eingehalten. Die anderen argumentieren: Das haben wir schon immer so gemacht.

Als Aussenstehender mutet es seltsam an, dass sich höchste Richtersinnen in einer Sachfrage derart uneinig sind.
Die RichteCinnen wussten, dass eine Praxisänderung bei der IV jährliche Mehrkosten von 300 bis 400 Millionen Franken zur Folge hätte. Da können sie zur eigenen Rechtfertigung mit der Gewaltenteilung argumentieren. Einen solchen Entscheid zu fällen,seinicht ihre, sondern die Aufgabe des Gesetzgebers.

Sehen Sie das auch so?
Das Bundesgericht hat letztlich die IV saniert. Und zwar in erster Linie mit der restriktiven «Schmerzrechtsprechung» vor etwa fünfzehn Jahren. Diese führte im Endeffekt zu einer Halbierung der Anzahl Neurentnerinnen. Das Bundesgericht hatte bislang wenig Hemmungen, die Praxis zu ändern, wenn es darum ging, Geld zu sparen. Nun aber, da die IV für eine sachgerechte Bemessungsmethode mehr Geld ausgeben müsste, wird Zurückhaltung erkennbar. Das ist ein Widerspruch.

Geht es nur ums Geld?
Offensichtlich. Auch wenn das Bundesamt für Sozialversicherungen das nicht so sagt. Mit dieser fehlenden Offenheit wird die Bevölkerung hinters Licht geführt. Wir zahlen Beiträge ein und gehen davon aus, dass wir anständig versichert sind. Aber viele sind es faktisch gar nicht. So wird jenen, die sich das leisten könnten und wollten, die Möglichkeit genommen, sich privat zu versichern. Denn am IV-Entscheid hängt nicht nur die erste, sondern auch die zweite Säule. Wer abgelehnt wird, hat in der Regel keinen Anspruch auf die entsprechenden BVG-Gelder. Das trifft viele Menschen existenziell.

Was schlagen Sie vor?
Es braucht mehr Redlichkeit. Ich bin froh, dass die Politik das Problem erkannt hat. Man muss sich aber bewusst sein, dass eine saubere Berechnung der IV-Renten mehr kostet. Niemand spricht derzeit von Beitragserhöhungen, obwohl die IV immer noch hoch verschuldet ist. Gut möglich, dass die Bevölkerung bereit ist, mehr zu zahlen, wenn sie weiss, warum. Vielleicht kommt die Politik auch zum Schluss, dass es die IV gar nicht braucht. Das wäre zumindest ehrlich. Jetzt erscheint das IV-System manchen Betroffenen als eine Versicherung, die nicht versichert.


Prof. Thomas Gächter

 

51,ist Inhaber des Lehrstuhls für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht sowie Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Er ist Mitautor eines Rechtsgutachtens, das auf die Mängel bei der IV- Berechnung hinweist. Anfang Januar verfasste er einen Protestbrief an den Bundesrat, den fünfzehn Schweizer Rechtswissenschaftler*innen mitunterzeichneten.

Schweiz tut sich schwer mit der Gleichstellung von Behinderten

(Aargauer Zeitung / GesamtRegio)

Der UNO-Ausschuss kritisiert, die Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben fehlten. Wo Bund und Kantone jetzt ansetzen müssten.


Ziel ist, die Umgebung so zu gestalten, dass Behinderte nicht mehr auf Hilfe angewiesen sind. Bild: Gaötan Bally/Keystone

 

Menschen mit Behinderung sollen als gleichwertige Mitglieder an der Gesellschaft teilhaben können. Dies ist ein zentrales Ziel der UNO-Behindertenrechtskonvention (BRK), welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Doch acht Jahre später ist die Schweiz diesem Ziel nicht viel näher gekommen. Dies zeigt der Bericht des UNO-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderung.

Es ist das erste Mal, dass der UNO-Ausschuss überprüft, wie gut die Schweiz die Konvention umsetzt. Die Ergebnisse sind ernüchternd: In der Schweiz gibt es bei der Gleichstellung und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung viel Handlungsbedarf. «Es geht nicht nur um Details, sondern auch um ganz grundsätzliche Punkte, wo zwischen der Konvention und der Schweizer Umsetzung ein Graben besteht», erklärt Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel sowie Mitglied des UNO-Ausschusses. Bei der Überprüfung der Schweiz trat er in den Ausstand, doch Schefer hat die Gespräche zwischen der Schweizer Delegation und dem UNO-Ausschuss mitverfolgt.

Dabei sind ihm zwei Dinge besonders aufgefallen: «Meine Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss gingen davon aus, dass in der Schweiz alles gut läuft. Sie waren erstaunt über die Realität, die sie antrafen.» Auch er selbst sei überrascht worden – vom Auftritt mancher Vertreterinnen und Vertreter der Bundesverwaltung in Bern: «Bei einigen herrschte ein erheblicher Mangel an Kenntnissen, was die Konvention verlangt.»

Auch die Kantone verschlafen die Umsetzung

Es herrscht eine Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung der Schweiz und der Beurteilung durch den UNO-Ausschuss. Das zeigt sich auch in den offiziellen Antworten der Schweiz. Da steht etwa: «Die Regierung geht davon aus, dass das bestehende Zivilrecht einen ausreichenden Schutz vor Diskriminierung bietet.» Demgegenüber schreibt der UNO-Ausschuss, manche Rechtsvorschriften würden die Rechtsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen einschränken. Die Schweiz sei angehalten, einen gleichberechtigten Zugang zur Justiz zu gewährleisten.

Handeln müssten auch die Kantone, wie Schefer sagt. Seit acht Jahren sei die UNO -Konvention in Kraft, doch die Mehrheit der Kantone habe noch keine umfassende Gesetzgebung in Bezug auf die Rechte von Menschen mit Behinderung.

Zwar habe sich die Schweiz mit der Invalidenversicherung seit Jahrzehnten stark für Menschen mit Behinderung eingesetzt, so Schefer: «Das darf man nicht kleinreden. Wir geben gewaltige Summen für die IV aus.» Doch es brauche tiefgreifende Veränderungen in mehreren Bereichen: etwa bei der Frage von unfreiwilligen medizinischen Behandlungen, bei der inklusiven Schule, bei der Arbeit und beim Wohnen. Schefer sagt: «Nach der Konvention sollten auch Menschen mit Behinderung selbstbestimmt entscheiden können, wo und mit wem sie wohnen möchten.» Im Schweizer System mit Heimen und Institutionen sei dies nicht der Fall. Auch für Inclusion Handicap, den Dachverband der Behindertenorganisationen in der Schweiz,istklar,dass die Schweiz diesbezüglich schlecht dastehe. «Die Kritik des UNO – Ausschussesistunmissver- ständlich. Sie betrifft fast alle Artikel der Behindertenrechts- konvention»,sagt Caroline Hess-Klein, Leiterin der Abteilung Gleichstellung.

Grosse Kehrseite des fürsorgerischen Systems

Im Schweizer Recht werde eine Behinderung als individuelles Problem angeschaut. «So hat man ein ziemlich gutes System für individuelle Hilfe aufgebaut», erklärt Hess-Klein. Dieses fürsorgerische System mit Sonderschulen, Institutionen und geschützten Arbeitsplätzen habe jedoch eine gewichtige Kehrseite: «Dabei kommt zu kurz, dass Menschen mit einer Behinderung zunächst einmal Menschen sind, die an der Gesellschaft teilhaben wollen.» Eine Behinderung werde nach wie vor oft als Krankheit oder Defizit angeschaut. Das sieht Hess-Klein mit als Grund, warum sich die Schweiz bei der Inklusion so schwertut: «Was wir mit Verletzlichkeit oder Krankheit assoziieren, schieben wir gerne weg. So will man auch eine Behinderung lieber verdrängen.» Oft fehle die Erkenntnis, in wie vielen Bereichen die Rechte von Menschen mit Behinderung tangiert seien.

Verbesserung über die Änderung der Gesellschaft

Die Frage müsse weniger sein: Wie können wir Menschen mit Behinderung helfen? Sondern: Wie gestalten wir die Gesellschaft, dass eine Person im Rollstuhl nicht mehr auf Hilfe angewiesen ist? Dass alle an Schulbildung teilnehmen können? Nun gelte es, die Kritik ernst zu nehmen, so Hess-Klein: «Es ist eine historische Gelegenheit für die Schweiz, jetzt einen Plan aufzustellen, Prioritäten und Zuständigkeiten zu klären.» Die Umsetzung der Konvention verlange tiefgreifende Veränderungen unserer Gesellschaft. Entsprechend müsse man Projekte auf zehn bis zwanzig Jahre ausrichten. Die Arbeit könne umgehend beginnen, etwa indem bei jeder Gesetzesrevision daran gedacht wird, wie sie Menschen mit Behinderungen betrifft.

«Supported Employment»: ein Konzept für die Arbeitsintegration

(Berner Zeitung / Ausgabe Stadt+Region Bern)

Profilist eine Stiftung für Arbeitsintegration, die mit dem Konzept «Supported Employment» arbeitet. Was das ist, wie es angewendet wird und wer das Zielpublikum ist, erklärt Karin Allenbach, die als Job Coach bei Profil tätig ist. Sie weiss auch, wie nachhaltig die Integration ist.

Interview: Marianne Rupp

Was ist Supported Employment?

Supported Employment ist ein Handlungskonzept. Es dient dazu, Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in die Arbeitswelt zu integrieren und sie unterstützend zu begleiten.

Was bedeutet «erschwerter Zugang»?

Damit sind Menschen gemeint, die aufgrund von Erkrankungen oder Beeinträchtigungen, egal ob physischer oder psychischer Natur, auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind. Das können beispielsweise Menschen mit Behinderungen sein, aber auch Langzeit-Stellensuchende oder Sozialhilfeempfänger.

Wie funktioniert Supported Employment?

Ein Leitsatz lautet: Zuerst platzieren, dann trainieren. Das heisst, wir vermitteln unsere Kandidaten ohne vorbereitende Aufbauprogramme oder Orientierungskurse direkt an einen Arbeitsplatz, wo sie on-the-job lernen. Die Integration erfolgt in den ersten Arbeitsmarkt und nichtineine geschützte Einrichtung. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der personenzentrierte Ansatz: Wir unterstützen die Kandidaten gemäss ihren individuellen Fähigkeiten, Interessen und Wünschen und helfen ihnen auch, selbstbestimmt zu handeln.

Woher kommen Ihre Kandidaten?

In der Regionalstelle Ostschweiz von Profil werden uns hauptsächliche Leute von der IV oder den regionalen Arbeitsvermittlungszentren vermittelt. Zusätzlich haben wir kantonale Verträge, sodass sich Menschen mit voller IV-Rente direkt bei uns melden können. Wer die Auftraggeber sind, hängt davon ab, mit welchen Organisationen oder Unternehmen die Regionalstellen Verträge ausgehandelt haben

Wie gehen Sie bei der Arbeitsintegration vor?

Supported Employment besteht aus vier Schritten. Im Rahmen der Auftragsklärung lernt man sich kennen und klärt ab, welche Erwartungen und Wünsche die Kandidatin hat und in welche Richtung dieArbeitssuche gehen soll. Je nach Auftraggeber gibt es dazu klare Vorgaben und ich schaue, inwiefern sich diese mit den Wünschen der Kandidaten decken. In der zweiten Phase, dem Profiling, stehen die Fähigkeiten, Stärken und Ressourcen der Kandidatin im Fokus. Drittens geht es darum, einen passenden Arbeitsplatz zu finden und nicht, wie in der klassischen Stellenvermittlung, einen passenden Stellensuchenden auf eineoffeneStelle zu vermitteln. Aktive Akquisition des Job Coaches ermöglicht Schnuppertage oder Praktika. Diese dienen dem gegenseitigen Kennenlernen. Praktika sind zudem wertvoll, weil sie den Kandidaten erlauben, neue Bereiche auszutesten.


Karin Allenbach arbeitet als Fachberaterin Arbeitsintegration/Job Coaching bei der Regionalstelle Ostschweiz von Profil – Arbeit&Handicap (www.profil.ch), einer Stiftung der Pro Infirmis Schweiz. Allenbach ist eidg. dipl. Arbeitsagogin und hat den CAS Supported Employment absolviert. Foto: zVg

 

Was ist der vierte Schritt?

Er betrifft die Unterstützung im Job. In welcher Form und wie häufig die Unterstützung stattfindet, hängt vom Bedürfnis und der Situation des Kandidaten und des Arbeitgebers ab. Das können eine anfängliche Begleitungzur Arbeitoder regelmässige Standortgespräche sein. Supported Employment geht von einer langfristigen Unterstützung aus und zwar für alle Beteiligten.Allerdingskann es je nach Auftraggeber sein,dassich meine Arbeit abschliessen muss, wenn der Kandidat eine Stelle gefunden hat.

Wie unterstützenSie die Arbeit- geber?

Zuerst bespreche ich mit meiner Kandidatin, was ich dem Arbeitgeber sagen darf, denn die transparente Kommunikation zwischen allen Beteiligten ist grundlegend. Mit dem Arbeitgeber kläre ich vorab, welche Arbeiten auf Grund der Einschränkungen meiner Kandidatin möglich sind. Grundsätzlich sollte ein Arbeitgeber über arbeitsrelevante Faktoren informiert werden, etwa ob jemand mehr Anleitung benötigt wegen einer Lernschwäche oder ob jemand auf einen langsamen Einstieg ohne Druck angewiesen ist, beispielsweise nach einem Burnout. Ob die Arbeitsintegration funktioniert, hängt nicht nur vom Kandidaten selbst ab, sondern auch von seinemArbeitsumfeld.

Welche Einschränkungen haben Ihre Klienten?

Die psychischenBeeinträchtigungen, etwa Burnout oder Depressionen, sind die häufigsten und sie haben in den letzten Jahren zugenommen. An zweiterStelle stehen krankheits- oder körperlich-bedingte Einschränkungen, wie Multiple Sklerose oder ein Leben im Rollstuhl. Oft unterstützen wir auch Menschen mit Lernschwächen.

Was braucht es, damit Supported Employment erfolgreich ist?

Die Motivation des Kandidaten. Er muss motiviert sein, beim ganzen Prozess mitzuarbeiten, eine neue Stelle zu finden und sie zu behalten. Allerdings spielen auch andere Faktoren eine Rolle, etwa die aktuelle Wirtschaftslage,in welchem Bereich die Arbeitssuche stattfindet oder wie viele Arbeitgeber zur Auswahl stehen.

Wie nachhaltig sind die Arbeitsintegrationen?

Durchschnittlich behalten 60 Prozent unserer Kandidaten ihre Anstellung. Wenn es zur Kündigung kommt, geht sie zu 75 Prozent vom Arbeitgeber aus.Als Hauptgründe werden eine gesundheitliche Verschlechterung oder eine mangelnde Integration genannt. Wenn wir unsere Arbeit abgeschlossen haben, liegt es am ehemaligen Kandidaten oder am Arbeitgeber, uns beizuziehen, falls Probleme auftauchen.

Seit 2021 läuft das vierjährige, nationale Pilotprojekt «Supported Employment 50plus», Auftraggeberin ist das Seco und Profil ist eine der ausführenden Institutionen. Was steckt hinter dem Projekt?

Das Konzept Supported Employment wird auf Stellensuchende angewendet, die über 50 Jahre alt sind und kurz vor der Aussteuerung stehen. Beim Zielpublikum stehenalso nichtdie gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Vordergrund. Allerdings sehe ich bei meinen älteren Kandidaten, dass die Gesundheitsthematik ab einem gewissen Alter häufig eine Rolle spielt. Momentan arbeite ich erst mit einem Kandidaten, der das Projektangebot nutzt, daher kann ich dazu noch nicht mehr sagen.

Politisch behindert

(Annabelle)

Wer als geistig behindert eingestuft wird, darf in der Schweiz gar nicht oder erst nach der Überwindung etlicher Hürden politisch aktiv sein. Dafür wird die Schweiz demnächst eine Rüge der Uno kassieren. Wird die längst überfällige Gleichstellung behinderter Menschen jetzt Realität? Vier der vielen Stimmen, die darum kämpfen, endlich gehört zu werden.

Text: Sarah Lau
Fotos: Fabian Hugo


«Alle wollen doch sagen können: Ich stimme zu. Ich stimme nicht zu» Aquil Humbert

 

Dass Menschen aufgrund ihrer Entscheidungsfähigkeit politische Rechte verlieren, ist diskriminierend

«A. Humbert» steht in säuberlichen Buchstaben auf dem Briefkastenschild des Mehrfamilienhauses in Bussigny im Kanton Waadt. Eine gepflegte Siedlung und seit anderthalb Jahren das erste Zuhause, in dem Aquil Humbert eigenständig wohnt. Hier schreibt er E-Mails am grossen Schreibtisch und kümmert sich um seinen Hamster Osaka. Er geht gern am Genfersee angeln, spielt Basketball, fährt Snowboard und hat Spass am Kochen. Pouletcurry, leicht scharf, dazu Reisnudeln hat er am liebsten. «Früher wollte ich Koch werden, aber das bringt viel Stress und ich würde nicht gern damit umgehen müssen», sagt der 29-Jährige. Aquil Humbert weiss, was er gut kann, aber auch, wo er Hilfe benötigt. Etwa, wenn zu viele Menschen gleichzeitig auf ihn einreden oder er einen Hinweis braucht, dass es Zeit ist, mal wieder die Wohnung zu putzen.

Aquil Humbert ist mit einer Mikrozephalie zur Welt gekommen. Auch wenn man es auf den ersten Blick nicht sieht, ist sein Kopf kleiner als jener von anderen Menschen, sein Gehirn ist vergleichsweise unterentwickelt. Eine Heilung wird es nicht geben, doch dank der Förderung seiner Familie kann der Schweizer heute in seinem Apartment selbstständig leben. Wenn ihn sein achtjähriger Sohn Mathias an den Wochenenden besucht, treffen sich die beiden fast immer bei Aquil Humberts Eltern. Die Beziehung zur ebenfalls behinderten Mutter ging kurz nach der Geburt in die Brüche. Anfangs wurde die Jugendschutzbehörde noch über Besuche informiert, inzwischen wird Aquil Humbert zugetraut, seinen Sohn auch mal eine Nacht allein zu betreuen. Genau wie ihm zugetraut wird, einen Elektroherd zu benutzen und im Internet zu surfen.

Wählen und abstimmen, das hingegen darf Aquil Humbert nicht. Denn gemäss Artikel 398 des Zivil-gesetzbuches ist er als «hilfsbedürftige Person» kategorisiert, die wegen «dauernder Urteilsunfähigkeit» besonders schutzbedürftig ist und deshalb von der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) einen Beistand erhalten hat. «Ich fühle mich oft überfordert, die Beistandschaft hilft mir», sagt er. Je nachdem, wie die Behörde die Fähigkeiten einstuft, werden Menschen einer von vier verschiedenen Beistandschaftskategorien zugeteilt. Wer wie Aquil Humbert unter umfassender Beistandschaft lebt, der weitreichendsten Vormundschaftsform, der oder dem wird nicht nur so ziemlich jede Handlungs- fähigkeit, sondern auch das politische Mitspracherecht abgesprochen. Rund 15 000 Menschen in der Schweiz sind betroffen.

Als er noch bei den Eltern wohnte, hat Aquil Humbert dennoch zehn Jahre lang Abstimmungs-unterlagen zugeschickt bekommen. Ein Versehen, das erst nach dem Umzug in ein Heim bemerkt wurde. Gewählt habe er die zehn Jahre lang ganz selbstverständlich. Bis heute spricht er gern mit seinen vier Geschwistern über Politik. «Ich achte weiterhin darauf, was draussen passiert, weil es wichtig ist, zu wissen, warum die Leute für welches Gesetz abstimmen», sagt er. «Alle wollen doch sagen können: Ich habe meine Meinung gesagt. Ich stimme zu. Ich stimme nicht zu. Es geht darum, dass man das Recht hat, eine Debatte zu führen.» Wie er sich politisch positioniert, wenn es etwa um Umweltrecht, Migrationspolitik oder auch Agrarwirtschaft geht, weiss er. Seine Meinung jedoch ist rechtlich nicht verbindlich, politisch gesehen: bedeutungslos.

Dass Menschen in der Schweiz pauschal die politischen Rechte aufgrund ihrer Entscheidungsfähigkeit oder angeblich mangelnden Intelligenz verlie-ren, ist jedoch diskriminierend und verletzt damit das Recht. Und verstösst gegen die Uno-Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz 2014 ratifizierte. Im April erscheint ein Prüfbericht der Uno, der untersuchte, inwieweit die Schweiz diese tatsächlich umsetzt. Für Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel und Mitglied des Uno-Beh indertenrechtsausschusses, ist klar: «Die Schweiz wird eine Rüge kassieren.»

„Ich binentsetzt, dass ein solcher Zustand in einer Demokratie wie der Schweiz Realität ist“
Caroline Hess-Klein, Leiterin Gleichstellung bei Inclusion Handicap


«Ich warte nicht mehr darauf, gefragt zu werden, jetzt melde ich mich » Christoph Linggi

 

Hinzu kommt, dass der allenthalben hochgelobte Schweizer Föderalismus die Problematik verschärft. Wer welcher Beistandschaftskategorie zugeteilt wird, fällt «kantonal extrem unterschiedlich aus», sagt Caroline Kess-Klein, die als Leiterin Gleich- stellung bei Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisation, arbeitet und als Juristin einen Lehrauftrag an der Universität Basel hat. Hess-Klein hat das Interview mit Humbert nicht nur vermittelt, sondern auch begleitet. «Ich zweifle nichtdaran, dass Aquil Humbert in den allermeisten Deutschschweizer Kantonen seine politischen Rechte hätte», sagt sie – weil er dort nicht eine um- fassende, sondern eine leichtere Form der Beistand- schaft erhalten hätte. Der Kanton Waadt, überhaupt die Westschweizer Kantone, stellen gemäss Hess-Klein überdurchschnittlich viele Menschen unter umfassende Beistandschaft. 2020 waren es im Kanton Waadt knapp 3800 der 800 000 Einwohner, im Kanton Bern lediglich rund 660 von einer Million. Wieso derart grosse Unterschiede zwischen der Romandie und der Deutschschweiz bestehen, wurde bisher nicht untersucht. Caroline Hess-K lein sagt: «Ich bin entsetzt, dass ein solcher Zustand in einer Demokratie wie der Schweiz Realität ist, nicht nur für Aquil Humbert. Das ist unhaltbar.»

Doch warum verunmöglicht die umfassende Beistandschaft hierzulande überhaupt automatisch jegliches politische Mitspracherecht? Markus Schefer sieht den Ausschluss in der allgemeinen Auffassung begründet, dass ein Mensch, der bereits bei der Verwaltung privater Angelegenheiten umfassend Hilfe benötige, bei den grossen Entscheidungen der Politik nicht mitzusprechen vermöge. Politische Rechte an Voraussetzungen zu binden – im vorliegenden Fall an den Betreuungsstatus – hat Tradition. «Früher waren sie an die Wehrpflicht oder gewisse Vermögenswerte geknüpft.» Dass Frauen so lang vom Wahl- und Stimmrecht ausgeschlossen werden konnten, war letztlich auch eine Folge dieser in der Bundesverfassung verankerten Kopplung.

«Immer wieder kommt in diesem Diskurs die Idee auf, es müsse geprüft werden, ob jemand gewisse Fähigkeiten hat, um politische Verantwortung zu bekommen», sagt Markus Schefer. Davon hält er nichts. «Dem Schweizer Recht sind solche Prüfungen fremd. Niemand muss Rechenschaft darüber ablegen, dass er fähig sei, teilzunehmen.» Etwa, dass man ausgiebig die Parteiprogramme und das Abstimmungsbüechli studiert hat, nicht von nahestehenden Personen beeinflusst wurde oder schlau genug ist, das politische System zu verstehen. Warum also sollen allein Menschen mit geistiger Behinderung einer solchen Prüfung unterzogen werden? Darüber hinaus: Wie genau soll diese «Intelligenz» im Bereich politischen Handelns definiert werden und wem ist sie abzusprechen? Menschen, die den Holocaust leugnen? Sexualstraftäter:innen? Autofahrenden in Zeiten des Klimawandels?

Menschen, die aufgrund ihrer geistigen Voraussetzungen nicht in der Lage sind, sich eine Meinung zu bilden, blieben der Urne einfach fern. Oft taucht auch der Einwand auf, dass Menschen mit Behinderung leichter manipuliert werden könnten, so oder anders abzustimmen, oder dass jemand anders ihre Wahlunterlagen ausfüllt. Das Risiko besteht, ist gemäss Schefer jedoch nicht höher als bei anderen Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen, etwa Personen im Altersheim. Und solche widerrechtliche Eingriffe lassen sich wie alle anderen auch ahnden und bestrafen. Nicht zuletzt stellt man damit Angehörige und Betreuungspersonal unter betrügerischen Generalverdacht.


«Mit 41 ging ich das erste Mal wählen»: Sabrina Gaetani

 

Die Schweiz muss nun daran arbeiten, echte Partizipation zu ermöglichen

In den umliegenden Ländern ist man in der politischen Inklusion bereits weiter. In Deutschland hatte das Bundesverfassungsgericht den generellen Wahlausschluss von vollbetreuten Behinderten 2019 für gesetzeswidrig erklärt – sowohl für die Bundestags- als auch für die Europawahl. Frankreichs Regierung ergriff selbst Initiative und auch in Ländern wie Spanien und Österreich herrscht Einigkeit, dass es sich um Diskriminierung handelt, Menschen mit einer geistigen Behinderung den Gang an die Urne zu verwehren. In der Schweiz hat sich in dieser Sache jüngst nur in Genf etwas Entscheidendes getan: Als einziger Kanton hat er im November 2020 eine kantonale Initiative mit überwältigender Mehrheit von 75 Prozent angenommen, die für umfassend Verbeiständete das Stimmrecht auf kommunaler und kantonaler Ebene forderte. Es war eine Abstimmung mit Signalwirkung, zumindest innerhalb der Schweiz.

Jene Schweiz, die sich ja gern als Vorzeige-Demokratie sieht, muss nun also daran arbeiten, echte Partizipation zu ermöglichen: So wie es Rollstuhlfahrer:innen möglich gemacht werden muss, über Rampen und Lifte einen Zugang zum Perron zu haben, muss es Menschen mit geistiger Behinderung möglich gemacht werden, zu verstehen, worum es bei einer Abstimmung geht. Professor Markus Schefer sagt: «Es ist eine Frage elementarer Gerechtigkeit.» Und dabei geht es nicht nur um jene Menschen, die bisher ganz vom politischen Prozess ausgeschlossen worden sind. Sondern auch um solche, die nicht umfassend verbeiständet sind, jedoch aufgrund ihrer geistigen Behinderung dennoch oft abgehängt sind vom politischen System.

Im Arbeitszimmer von Christoph Linggi in Uster im Kanton Zürich stapeln sich Bücher und Ordner auf Wandregalen. Dass er sich eines Tages durch Gesetzesvorlagen wühlen, eine Tageszeitung abonnieren und Mitglied der Grünliberalen sein würde, war nicht immer abzusehen, erzählt er im Video-interview. Linggi hat eine geistige Behinderung, die allgemein als Lernschwäche oder Lernschwierigkeit bezeichnet wird. Wenn der 53-Jährige einen Text liest, braucht er mehr Zeit, um ihn zu verstehen. Er steht nicht unter umfassender Beistandschaft, er darf also wählen und abstimmen.

Selbstbestimmtheit ist Linggi wichtig, Bevormundungen nerven ihn. Erleben tut er sie ständig. An geschützten Arbeitsplätzen, etwa in einem Lager, wo er Kartons geschnitten und geklebt hat, aber keinen Kundenkontakt haben durfte. Oder bei Jobs als Hauswart, Reinigungskraft oder Umzugshilfe, wo er von oben herab behandelt wurde, sich ausgenutzt fühlte. Von etwaigen politischen Rechten habe er lang nichts zu hören bekommen. In der Schule sei das gar kein Thema gewesen und auch «meine Eltern haben sich nicht sonderlich für Politik interessiert». Nach einer Anlehre als Mechaniker habe er mit 32 Jahren den lang ersehnten Ausbildungsplatz als Schreiner bekommen und einen Berufsschullehrer gehabt, der den Lernenden Politik nahebrachte. «Er hat mir beigebracht, wie das Abstimmungssystem funktioniert, wofür die Parteien stehen und was meine politischen Rechte und Pflichten sind. Wenn man das nicht gelernt hat und das Kuvert mit den Wahlunterlagen in der Post liegt, weiss man doch gar nicht, was man machen muss. Dabei will ich doch diejenigen wählen, hinter denen ich auch stehen kann.»

Linggi hat gelernt, Informationen einzufordern und sich zu behaupten, auch auf dem politischen Parkett. Während er in den ersten Jahren auf Fototerminen der Partei in die letzte Reihe gedrängt oder ganz übergangen wurde, «warte ich heute nicht mehr darauf, gefragt zu werden, jetzt melde ich mich». Mitspracherecht und Teilhabe sind das zentrale Thema des Behindertenrechtsaktivisten. Immer wieder weist er darauf hin, dass es viele Betroffene gibt, die ohne Internetzugang leben – und was das für Probleme mit sich bringt. Etwa weil entschieden wird, dass sie zwar ein Mobiltelefon besitzen, nicht aber über ein freies Datenvolumen verfügen dürfen. Dabei sind die Übergänge von Fürsorge und Bevormundung fliessend. Nutzer:innen sollen insbesondere davor bewahrt werden, kostspielige Einkäufe oder Verträge abzuschliessen. Doch ein fehlender oder beschränkter Internetzugang kann auch bedeuten, dass behinderte Menschen in unserer digitalisierten Welt gar nicht erst an für sie speziell aufbereitete Informationen rankommen. Solche werden in sogenannter Leichter Sprache abgefasst, die explizit für Menschen mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten entwickelt wurde. Sie zeichnet sich aus durch kurze Sätze, gefettete Schlagwörter und Wortzusammensetzungen, die mit Bindestrich getrennt werden. «Ich bin der Meinung, dass Politisches so geschrieben sein muss, dass es nicht nur juristische Fachleute verstehen, sondern das ganze Volk», sagt Linggi. Ein Volk, zu dem rund 800 000 Menschen mit Leseschwäche gehören.

Auf Leichte Sprache ist auch Sabrina Gaetani angewiesen. Etliche Jahre war ihr der Weg an die Wahlurne versperrt. Nicht, weil jemand sie aktiv gehin- dert oder aufgrund einer umfassenden Beistandschaft die Rechte entzogen hätte. Die 43-Jährige, die ebenfalls eine leichte kognitive Beeinträchtigung hat, scheiterte an anderen Barrieren: «Mein Vater ist Italiener und war aufgrund der fehlenden Staatsbürgerschaft weder stimmberechtigt, noch hätte er die Wahlunterlagen auf Deutsch verstanden. Und meine Mutter ist im Kanton Neuenburg aufgewachsen, spricht also Französisch. Ich begriff die Unterlagen nicht ohne Hilfe, das war mir zu kompliziert.»

Doch dann sass Gaetani in einer Arbeitsgruppe von Insieme Schweiz, der Dachorganisation der Elternvereine «für und mit Menschen mit einer geistigen Behinderung». Dort half sie mit, eine Wahlhilfe in Leichter Sprache für die eidgenössischen Wahlen 2019 zu erarbeiten. Diese sind nicht nur sprachlich vereinfacht aufbereitet, sondern beinhalten auch erklärende Zeichnungen. Dank dieser Broschüre habe sie selbst gelernt abzustimmen: «Mit 41 Jahren ging ich zum ersten Mal wählen.»

Beim Video-Interview sitzt Gaetani auf dem Sofa ihrer Solothurner Wohnung. Sie erzählt, dass sie erst lernen musste, sich zu behaupten. So wie sie in ihrem Schwimmverein den Wettkampf liebt, stellt sich Gaetani heute den Herausforderungen des Alltags. Als ihr Zahnarzt eine Mahnung schickte, «bin ich persönlich in die Praxis gegangen und hab denen gesagt, dass sie die Mahnung direkt an die kantonale Ausgleichskasse weiterleiten können, denn da ich eine IV-Rente erhalte, muss die Invalidenversicherung dafür aufkommen. Dann habe ich dort angerufen und Druck gemacht». Es sei extrem mühsam, dass man sich immer so für seine Rechte und Ansprüche einsetzen müsse. «Meine Eltern haben mich nie so erzogen, als ob ich behindert wäre. Das war gut, denn sonst könnte ich heute nicht allein leben», sagt sie. Ihren Eltern sei es auch zu verdanken, dass sie eine sogenannte Kleinklasse besucht hat. Ansonsten hätte sie in eine Sonderschule gehen müssen, so konnte sie aber mit allen anderen Kindern aus ihrem Dorf in die Regelschule gehen. Nach der Hauswirtschaftslehre habe sie dann auch erst mal weiterhin bei den Eltern gewohnt, statt, wie es die Sozialbehörde gefordert hat, in ein Heim zu ziehen. Zunächst bekam sie Unterstützung von einem Sozialarbeiter, inzwischen organisiert Gaetani ihr Leben selbstständig. Bei der Arbeit ist sie für die Endkontrolle von reparierten Elektrogeräten verantwortlich. Ausserdem übernimmt sie, da sie neben Deutsch auch Französisch und Italienisch spricht, oftmals die Telefonanrufe. Dafür erhält sie neben ihrer 1V -Rente einen Lohn von mehreren hundert Franken.

 

Bern lehnte Wahlunterlagen in Leichter Sprache ab: Politische Inhalteseien zu komplex

Wahlhilfen in Leichter Sprache begünstigen politische Partizipation, doch sie stehen nicht umfassend bereit. Bettina Nageler, Geschäftsführerin von Capito in Winterthur, einer auf barrierefreie Kommunikation spezialisierte Agentur, weiss: «Es ist heute in der Schweiz nicht selbstverständlich, Abstimmungs- und Wahlunterlagen in Leichter Sprache anzubieten. Österreich und Deutschland sind da viel weiter, dort steht etwa auch eine Version der Websites des Kanzlers oder der Bundesregierung in Leichter Sprache zur Verfügung.»

Die Dringlichkeit, mehr Broschüren und Websites in Leichter Sprache anzubieten sowie gleichzeitig etwa durch Werbekampagnen und Schulungen von Betreuungs- und Ausbildungspersonal dafür zu sorgen, dass Betroffene von ihren politischen Rechten erfahren, wird sich durch die Massregelung der Uno erhöhen. Neuenburg, Wallis und Waadt sind bereits heute daran, die Frage nach den politischen Rechten neu aufzurollen. Und auch die Parteien kommen stärker in die Pflicht, Haltung und Programme in zwei Versionen anzubieten, um eine Meinungsbildung umfassender zu gewährleisten. Lediglich die SP Schweiz bietet ihre Parolen zu den Abstimmungen neu in Leichter Sprache an.

Es scheint da also etwas in Bewegung zu kommen, wenn es auch immer wieder Rückschläge gibt. Bern lehnte zuletzt einen entsprechenden Antrag auf Wahlunterlagen in Leichter Sprache mit der Begründung ab, dass politische Inhalte aufgrund ihrer Komplexität nicht dermassen vereinfacht aufbereitet werden können.

In der Insieme-Kampagne #Jeveuxvoter von 2019, in der Menschen mit geistiger Beeinträchtigung in Videos auf Social Media begründen, wes- halb auch ihnen das Recht zusteht, abstimmen und wählen zu können, sagt Andreas Rubin: «Ich wünsche mir eine inklusive und vielfältige Gesellschaft.» Der Jungbauer ist 34 Jahre alt und hat Trisomie 21. Als er noch unter umfassender Beistandschaft in einem Heim lebte, war Rubin vom Wahlrecht ausgeschlossen. Im Januar 2013 trat das neue Erwachsenenschutzgesetz in Kraft und die Behörde war verpflichtet, jede Beistandschaft zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Andreas Rubins Beistandschaft wurde abgeändert. Damals begann er nicht nur, von seinem Abstimmungsrecht Gebrauch zu machen, sondern setzte sich auch für mehr Teilhabe ein. Weil er gemerkt hat: Wer Ungerechtigkeiten ändern will, muss bereit sein, sich zu engagieren.

Am grossen Küchentisch sitzt er in Latzhose vor dem Laptop. Eben hat der Jungbauer noch geholfen, Ställe auszumisten, und der Katze seiner Gastfamilie auf dem grossen Bauernhof im Emmental eine Streicheleinheit gegönnt. Hier sei er viel selbstbestimmter als früher im Heim. Ihm machen vor allem der offene Umgang mit Besuchenden und Kolleg:innen und die Arbeit mit den Tieren Spass. Auf seine Vertretungsbeistandschaft ist Rubin nach wie vor angewiesen, gerade wenn es um finanzielle Angelegenheiten geht. Es kommt vor, dass er online Sachen bestellt, die er sich nicht leisten kann und die zurückgeschickt werden müssen. Auch gibt es Sachverhalte, die Andreas Rubin durcheinanderbringen, und manchmal schweifen seine Gedanken weit ab. Aber mit seinen Worten trifft er oft ins Schwarze. Etwa wenn er Gedichte schreibt, die er auch an öffentlichen Anlässen zum Besten gibt. «Bezeichne mich als normal. Wir sind ein Teil der Welt (…) Sage nie, dass ich behindert bin; nimm mich so, wie ich bin.»

Dass Andreas Rubin selbstbewusst für Gleichstellung eintritt, wurzelt in seiner Erziehung. Andreas Mutter Käthi Rubin hat zwanzig Jahre bei der Organisation Insieme gearbeitet und «es war mir immer wichtig, dass mein Sohn seine politischen Rechte kennt». Fragt man die Bernerin, wie politisches Interesse bei Kindern mit geistiger Behinderung geweckt und gefördert werden kann, sagt sie: «Grundsätzlich haben Eltern oft das Gefühl, es sei zu schwer, seinem behinderten Kind Politik zu erklären, aber ich kann nur sagen: Eure Töchter und Söhne können oft mehr, als ihr denkt. Es erfordert einfach Zeit und Geduld, Wissen zu vermitteln.»

Die Schweiz hat eine rechtlich verbindliche Zusage zur Gleichstellung und Teilhabe gegeben, als sie 2014 die Behindertenrechtskonvention unterschrieben hat. Doch um dieser tatsächlich nachzukommen, braucht es einen Paradigmenwechsel. «Wir müssen aufhören, geistig behinderten Mensch zu sagen, was gut für sie ist, und endlich damit anfangen, sie selbst zu fragen, was sie brauchen», bringt es Käthi Rubin auf den Punkt. Und ihr Sohn fügt an: «Viele Menschen, Politiker:innen und Behörden begreifen nach wie vor nicht, dass Menschen mit Behinderungen ins öffentliche Bild gehören.» Dass sie ein Recht darauf hätten, mitzureden. Und er sagt: «Wählen dürfen heisst auch: Ich bin einMensch.» Bei einer Wahlbeteiligung von gerade einmal 45 Prozent, wie 2019 landesweit ermittelt wurde, sollte einem demokratischen Staat wie der Schweiz klar sein, dass jede Stimme zählt.

Pro Infirmis unterstützt Flüchtlinge mit Behinderungen aus der Ukraine mit Sonderfonds

(presseportal.ch/de)

Pro Infirmis ist entsetzt über die Kriegshandlungen in der Ukraine und verurteilt diese scharf. Millionen von Menschen sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Für Menschen mit Behinderungen ist eine solche Flucht besonders dramatisch und mit enormen Konsequenzen verbunden: Einerseits verlieren sie innert kürzester Zeit ihr Supportsystem, andererseits gehen ihre Bedürfnisse in Krisensituationen zu oft vergessen. Angesichts der aktuellen Krise in der Ukraine sowie anlässlich dem bisher noch nie aktivierten Schutzstatus „S“ hat Pro Infirmis aus den eigenen Reserven einen Fonds in Höhe von 1 Mio. CHF eingerichtet, der diese besonders vulnerable Flüchtlingsgruppe in der Schweiz unterstützen soll.

Der Fonds ist auf die Finanzierung unbürokratischer Hilfe für Flüchtlinge mit Behinderungen ausgerichtet, damit sie ihr Leben hier in der Schweiz möglichst autonom weiterführen können. Damit möchte Pro Infirmis die zuständigen Behörden dabei unterstützen, pragmatische Lösungen zu finden, und sicherstellen, dass den spezifischen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen Beachtung geschenkt werden. Die 2014 in der Schweiz ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention, welche die Rechte der Menschen mit Behinderungen schützt, fordert diese inklusive Art der humanitären Hilfe.

Als Fachorganisation steht Pro Infirmis allen behördlichen und nicht behördlichen Auffang- und Kontaktstellen für Flüchtlinge in dieser besonders herausfordernden Zeit beratend zur Seite. Gleichzeitig appellieren wir an Bund und Kantone, den Bedarf von Flüchtlingen mit Behinderungen in ihren Prozessen mitzudenken und die Finanzierung sicherzustellen.

Gleichzeitig stehen Betroffenen dank des Fonds die Dienstleistungen von Pro Infirmis zur Verfügung. Mit der bestehenden Sozialberatung für Menschen mit Behinderungen wollen wir den Flüchtlingen mit Behinderungen ungeachtet von ihrem Status schnell und effizient dort helfen, wo die offiziellen Strukturen ihren Bedarf nicht abdecken können. Dank der Erfahrung von Pro Infirmis in diesem Bereich können so rasch pragmatische Lösungen gefunden werden.

Zusätzlich hat Pro Infirmis eine Taskforce eingerichtet, um zeitnah weitere Angebote zu entwickeln. Dabei stehen die tatsächlichen Bedürfnisse der betroffenen Menschen mit Behinderung im Zentrum und kantonale Besonderheiten sollen berücksichtigt werden. Dank den schweizweit 50 Standorten kennt Pro Infirmis die lokalen Gegebenheiten besonders gut, kann ein bestehendes, feinmaschiges Netzwerk aktivieren und in dieser volatilen
Situation agil und zielgenau auf effektive, bestehende Angebote hinweisen oder bei hohem Bedarf neue entwickeln.

Für Fragen stehen zur Verfügung:

Felicitas Huggenberger, Direktorin, 058 775 26 80, felicitas.huggenberger@proinfirmis.ch
Daniel Janett, Bereichsleiter Dienstleistungen Deutschschweiz, 058 775 26 92, daniel.janett@proinfirmis.ch

Bundesgericht stützt IV-Praxis

(Tages-Anzeiger)

Knapper Entscheid Geringverdiener mit stark reduzierter Leistungsfähigkeit haben weiter schlechte Chancen auf eine Invalidenrente. Zwei der fünf Bundesrichter kritisieren jedoch das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen.


Körperlich schwere Arbeiten kommen für die meisten IV-Bezüger mit gesundheitlichen Schäden am Bewegungsapparat nicht mehr infrage. Foto: Getty Images

 

Markus Brotschi

Der Fall des 58-jährigen Anlageführers, der gestern vor dem eidgenössischen Versicherungsgericht in Luzern behandelt wurde, ist exemplarisch für die Praxis der IV. Der Mann kann aufgrund seiner körperlichen und psychischen Einschränkungen nur noch Hilfsarbeiten verrichten: «einfach strukturierte, sehr leichte und wechselbelastende Tätigkeiten», wie es im IV-Entscheid heisst. Dafür soll der Mann aufgerechnet auf ein Vollzeitpensum jährlich 67’766 Franken verdienen können, was nach Ansicht seines Anwalts kaum realistisch ist. Denn das sind nur gerade 2 Prozent weniger als in seinem früheren Beruf als Anlageführer. Unter Berücksichtigung einer 40-pro zentigen Arbeitsunfähigkeit ergibt das für den auf einem Auge blinden Mann mit Schäden am Bewegungsapparat einen Invaliditätsgrad von 47 Prozent, was lediglich zu einer Viertelsrente berechtigt.

Behindertenverbände erhofften sich nun vom Bundesgericht ein Grundsatzurteil und eine Korrektur der IV-Praxis. Diese ist seit Jahren umstritten. Das Problem liegt in den Annahmen der IV für das Einkommen, welches die gesundheitlich beeinträchtigte Person noch erzielen kann. Dieses theoretische Invalideneinkommen ist häufig unrealistisch hoch, insbesondere für leichte Hilfsarbeiten. Viele Versicherte erhalten keine Rente, weil die IV unterstellt, sie könnten trotz starker gesundheitlicher Einschränkungen eine gut bezahlte Arbeit finden.

Die Argumente der Richter

Das Bundesgericht kam jedoch nach vierstündiger öffentlicher Beratung zum Schluss, dass es die geltende Rechtspraxis nicht ändern will. Das fünfköpfige Gremium lehnte mit drei zu zwei Stimmen die Beschwerde ab, mit der der 58-Jährige eine halbe statt der ihm seit November 2018 gewährten Viertelsrente verlangte. Dazu hätte bei der Berechnung des Invalidenlohns nicht wie üblich der statistische Medianlohn verwendet werden dürfen. Der Anwalt verlangte, dass das Bundesgericht sich auf das unterste Viertel der Löhne stützt, die das Bundesamt für Statistik in seiner Erhebung für die jeweiligen Berufsgruppen beizieht.

Es gebe keinen Grund, von der über 20-jährigen Praxis abzurücken, argumentierte Bundesrichter Marcel Maillard. Die neuen Studien, auf welche die Beschwerdepartei verweise, brächten keine wirklich neuen Erkenntnisse. Zudem sei seit Anfang 2022 eine IV-Reform in Kraft. Da der vorliegende Fall noch nach altem Recht beurteilt werde, könnten in dieser Über-gangsphase nicht die Spielregeln geändert werden.

Maillard verwies zudem dar- auf, dass die IV einen sogenannten Leidensabzug von maximal 25 Prozent auf dem Invaliden einkommen machen könne, um spezifische Nachteile des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu berücksichtigen.

Dem widersprach Gerichtspräsident Martin Wirthlin. Der Leidensabzug habe seine Korrekturfunktion längstens verloren. Ihm seien kaum Fälle bekannt, in denen die IV diesen Abzug voll gewähre. Auch beim Beschwerdeführer setzte die IV diesen bei 10 Prozent fest, obwohl für den Mann nur gering belastende Arbeit möglich ist und er lediglich über eine Grundschulbildung in Kosovo und keine Berufsbildung verfügt.

Beschwerde in Strassburg?

Dass beim Leidensabzug in der heutigen Praxis das fortgeschrittene Alter nicht berücksichtigt werde, verstosse gegen Bundesrecht, sagte Wirthlin. Er beantragte deshalb, den Leidensabzug auf 15 Prozent festzulegen, womit der Mann rechnerisch Anspruch auf eine halbe IV-Rente gehabt hätte. Unterstützt wurde Wirthlin von einem Richterkollegen. Maillard sowie die beiden anderen Bundesrichterinnen lehnten jedoch den höheren Leidensabzug ab. Die Höhe des Abzugs sei ein Ermessensentscheid. Das Bundesgericht dürfe die Vorinstanz nur korrigieren, wenn diese den Abzug rechtsmissbräuchlich oder willkürlich festgelegt habe.

Für viele Behinderte sei das In- valideneinkommen auf dem realen Arbeitsmarkt unerreichbar, ergänzte hingegen Wirthlin. Insbesondere das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) müsse nun «mit Energie» die Anwendung der BSV-Lohntabellen überprüfen, sagte er. Die Mehrheit des Gerichts stützte hingegen das Vorgehen des Bundesrates und des BSV, welches zwar eine Überprüfung der Praxis in Aussicht stellte, sich dafür allerdings bis fünf Jahre Zeit lassen will.

Der Anwalt zeigte sich vom Urteil enttäuscht und prüft einen Weiterzug an den Europäischen Gerichtshof in Strassburg. Als Lichtblick sieht der Anwalt die Kritik an der heutigen IV- Praxis, die von Wirthlin und einem weiteren Richter geäussert wurde. Zudem hofft er, dass das Bundesgericht bei der künftigen Beurteilung eines Falls unter dem seit 2022 geltenden Recht doch eine Korrektur der Berechnung des Invalidenlohns verlangen wird.

Kommentar
Nun muss das Parlament die Diskriminierung beenden

Die heutige IV-Praxis zur Ermittlung eines Rentenanspruchs benachteiligt vor allem Versicherte mit kleinen Einkommen. Denn häufig kommt die Invalidenversicherung (IV) zum Schluss, dass trotz gesundheitlichem Leiden am Bewegungsapparat noch eine Hilfsarbeit mit einem Monatslohn von über 5000 Franken möglich ist.

Dass der reale Arbeitsmarkt nicht den fiktiven Vorstellungen der IV entspricht, kümmert das Bundesamt wenig.

In einem solchen Fall haben die Betroffenen schlechte Karten. Denn einerseits bekommen sie keine oder nur eine minimale Rente, weil sie nach Ansicht der IV in einem angepassten Job fast gleich viel verdienen wie als Gesunde. Und andererseits gibt es auf dem realen Arbeitsmarkt immer weniger Hilfsjobs für gesundheitlich Angeschlagene, und schon gar nicht zu solchen Löhnen. Doch dass der reale Arbeitsmarkt nicht den fiktiven Vorstellungen der IV entspricht, kümmert das zuständige Bundesamt für Sozialversiche-rungen (BSV) wenig. Und dies, obwohl mehrere Studien den Missstand ausführlich dokumentieren und Sozialpolitiker des Nationalrats von SP bis SVP eine Korrektur verlangt haben.

Die Behindertenverbände haben deshalb auf das Bundesgericht gezählt. Doch auch dieses sieht sich nicht zuständig, um der IV realistischere Lohnvorgaben für gesundheitlich Angeschlagene zu machen. Das Gericht begründet seine Zurückhaltung unter anderem damit, dass auf Anfang Jahr eine IV-Reform in Kraft getreten ist. Mit dieser hat das BSV die geltende Praxis allerdings für weitere Jahre zementiert.

Deshalb ist nun die Politik gefordert. Das Parlament muss Bundesrat Alain Berset und sein BSV zu einer realistischen und fairen Rentenformel zwingen. Denn heute zahlen wir alle in eine Sozialversicherung ein, die ihren Zweck nur mehr teilweise erfüllt. Tausende von gesundheitlich Angeschlagenen werden an die Sozialhilfe verwiesen, weil sie von der IV keine Rente erhalten.

Die IV wurde vor 20 Jahren von Bundesrat und Parlament zum Sparen gezwungen, weil sie zuvor allzu grosszügig Renten zugesprochen hatte. Nun muss die Politik die nötigen Korrekturen anbringen, auch wenn das etwas kostet.


1Markus Brotschi

 


So wird der Invaliditätsgrad berechnet

Wer gesundheitlich stark angeschlagen ist, kann seine angestammte Arbeit häufig nicht mehr ausüben. Trotzdem bekommen viele der Betroffenen keine Invalidenrente, weil die IV eine umstrittene Berechnungsmethode anwendet. Für die IV entscheidend ist der Invaliditätsgrad, welcher für eine Rente mindestens 40 Prozent und für eine Umschulung mindestens 20 Prozent betragen muss.

Viele Arbeitnehmende mit gesundheitlichen Einschränkungen fallen unter diese Grenzen, weil zur Berechnung des IV- Grads das frühere Einkommen mit einem fiktiven Invalideneinkommen verglichen wird, das die Betroffenen laut IV trotz Behinderung erzielen könnten. Für das tiefste Kompetenzniveau geht die IV bei Männern von 5417 Franken Monatslohn aus, bei Frauen von 4371 Franken. Damit fällt für Gering- und Normalverdiener die errechnete Lohneinbusse gegenüber dem früheren Job oft zu klein aus, als dass sie eine Rente erhielten. Stossend daran ist, dass das fiktive Einkommen auf dem realen Arbeitsmarkt insbesondere für einfache Hilfsarbeiten kaum bezahlt wird.

Die IV stützt sich beim Invalideneinkommen auf die Lohnstrukturerhebung des Bundesamts für Statistik. Es handelt sich dabei um die mittleren statistischen Löhne von gesunden Arbeitnehmern, aufgeschlüsselt nach Kompetenzanforderungen. Allerdings sind diese Löhne gerade für einfache Hilfsarbeiten überzeichnet, da darin auch die Gehälter der Baubranche enthalten sind, wo für körperlich anstrengende Arbeiten mit geringen Anforderungen oft gute Löhne bezahlt werden. Das zieht das statistische Einkommen in die Höhe. Nur: Hilfsarbeiten auf dem Bau eignen sich kaum für die IV-Klienten. (br)