Die Geräusche des Windes

(EBGB 06/2021)

Ein Gespräch über Sprachen, Barrieren und Teilhabe

 

Sibylle Rau ist Visuelle Gestalterin, 56 Jahre alt und seit Geburt gehörlos. Sie ist lautsprachlich aufgewachsen, lernte die Gebärdensprache erst später und erzählt über das Leben in zwei Welten.

Frau Rau berichtet von ihren Ferien in Cape Cod / USA im Jahr 2011. Sie übernachtete in einem Bootshaus, als in der Nacht der Hurrikan Irene tobte.

«Ich habe den Hurrikan nicht gehört»

Die angerichtete Verwüstung sah sie erst beim Aufwachen. «Ich traute meinen Augen nicht. Vor meinem Fenster lagen zwei zerschmetterte Jachten im Garten. Vom Getöse, Krach und Heulen des Sturms bekam ich in der Nacht nichts mit. Das verschonte mich zwar vor der Panik und Angst, aber es hätte auch anders herauskommen können.» In Notsituationen sind Gehörlose besonders gefährdet, besonders wenn die entsprechenden Alarme nur akustisch sind. «Heutzutage gibt es ja Apps, wie zum Beispiel Alertswiss, die einem über Katastrophen informiert. Das hätte ich damals gebraucht.»

Als weiteres Beispiel nennt Sibylle Rau einen Beinahe-Unfall: «Ich wurde einmal auf dem Fussgängerstreifen fast von einem Krankenwagen überfahren.» Der Wagen fuhr so schnell, dass sie ihn vor der Überquerung nicht sehen konnte. Die Sirene hat sie nicht gehört. Der Fahrer sah sie jedoch und konnte im letzten Moment ausweichen. Daneben gab es weitere Situationen, die zwar nicht gefährlich, aber mühsam waren. «Es ist mir im öffentlichen Verkehr schon ein paar Mal passiert, dass ich Ansagen über Änderungen nicht mitbekam. So sass ich zum Beispiel im Tram und plötzlich hat es anscheinend geheissen: Alle aussteigen. Ich war vertieft in meinen Gedanken und wunderte mich plötzlich, warum das Tram nicht endlich abfuhr. Als ich mich dann umsah, bemerkte ich, dass ich inzwischen die Einzige im Tram war.»

Bildung: «Ja, da müsste noch einiges gemacht werden»

Die obligatorische Schulzeit verbrachte Frau Rau in einer Schule für gehörlose Kinder. «Damals war die Gebärdensprache noch verboten. Auch in den Pausen wurden die Kinder bestraft, wenn sie gebärdeten.» Es hat sich in der Zwischenzeit einiges verändert. «Aber als ich jung war, wollte ich eigentlich die Matura machen. Es gab noch keine Gebärdensprachdolmetschenden. Die Dienstleistung der Gebärdensprachdolmetschung gibt es erst seit 1985. Also absolvierte ich eine Lehre.» Obwohl Frau Rau damals die Gebärdensprache noch nicht so gut beherrschte, wäre sie auf diese angewiesen gewesen. «Die Gebärdensprachdolmetscher gebärden nicht nur, sondern sie bewegen ihre Lippen auch. Ich habe sie oft im Voraus gebeten, tonlos das Gesagte über die Lippen wiederzugeben, so gut sie können. Für mich wären Schriftdolmetscher ideal gewesen. Aber solche gab es damals ja auch noch nicht.»

Die Berufsschule und auch später die Kunstgewerbeschule absolvierte Frau Rau ohne Gebärdensprachdolmetscher. «Ich sass jeweils ganz vorne, musste mich aber immer durchsetzen und dafür kämpfen, dass die Lehrpersonen oder Professoren Hochdeutsch sprechen und nicht im Raum herumwandern, damit ich von den Lippen ablesen konnte.» Das war nicht optimal. Denn: «Erst die Möglichkeit, Gebärdensprachdolmetscher zur Seite zu haben, ermöglicht eine volle Bildung oder auch die Teilhabe in einem Arbeitsteam. Auch bei Teamsitzungen oder bei sonstigen Meetings können wir Gehörlose die Diskussionen der anderen nur mit Gebärdensprachdolmetschenden mitverfolgen und ebenfalls mitreden.» Sie betont wie wichtig es sei, über das Thema Gehörlosigkeit aufzuklären. «Wir erhalten wichtige News nicht einfach so nebenbei, z.B. bei Gesprächen im Gang. Es braucht den Willen der Mitarbeitenden und Chefs, uns bilateral oder schriftlich zu informieren.»

Spontanität sei ein anderes Thema. «Wenn ich einen Kurs ausgeschrieben sehe, kostet mich die Organisation immer einen Extra-Aufwand. Die Kursleiter müssen bereit sein, einen Gebärdensprach- oder Schriftdolmetscher zuzulassen und die Lichtverhältnisse anzupassen.» Eine Weiterbildung in einem abgedunkelten Raum, wo mit Beamer an die Wand projiziert wird, ist ungünstig. Da ist Lippenlesen nicht mehr möglich. «Ich hatte schon mal erlebt, dass der Leiter bei einem Weiterbildungskurs nicht bereit war, die Lichtverhältnisse anzupassen. Also konnte ich schlecht Lippenlesen oder die Gebärden der Dolmetscherin sehen, die ich extra dafür organisiert hatte. Das war frustrierend für mich.»

Lautsprache und Gebärdensprache

Frau Rau wuchs vorwiegend unter Hörenden auf. So ist auch die Lautsprache ihre Mutter- bzw. Erstsprache. Die Gebärdensprache lernte sie erst im Erwachsenenalter. Aus diesem Grund wurde sie früher von Gehörlosen selbst nicht als «echte» Gehörlose akzeptiert. «Die Fronten waren einst härter als heute. Heute ist die Akzeptanz vorhanden, ob eine gehörlose Person nur lautsprachlich kommuniziert, in Gebärdensprache oder in beiden Sprachen.»

Durch die lautsprachliche Erziehung spricht Frau Rau so gewandt, dass ihre Gehörlosigkeit oft im ersten Moment nicht bemerkt wurde. Sie trat selbstbewusst in Kontakt mit Hörenden und erzählt von einem Beispiel aus ihrer Kindheit und Jugend. «Ich habe des Öfteren für meine hörende Freundin gesprochen. Sie war schüchtern und traute sich nicht fremde Leute anzusprechen. Wenn wir zusammen unterwegs waren, sprach also ich Passanten an, um nach der Uhrzeit oder was anderem zu fragen.» Auch im Erwachsenenalter gab es Gegebenheiten, wo beinahe vergessen ging, dass sie gehörlos ist. «Ich nahm zum Beispiel an einem Event teil, wo ich mich rege in Lautsprache und in Gebärdensprache austauschte. Danach wurde ich angefragt, ob ich als Gebärdensprachdolmetscherin an ihre Anlässe kommen könnte. Ich musste einerseits schmunzeln, aber auch den Kopf schütteln.» Laut Frau Rau, war dies Unwissenheit. Es gab auch ärgerliche Situationen, die mit Ignoranz zu tun hatten. «Erst kürzlich, bei der Anmeldung im Impfzentrum, weigerte sich die Person am Schalter trotz der vorhandenen Trennscheibe die Maske abzunehmen. Obwohl ich ihr erklärte, dass ich sonst nicht von den Lippen ablesen kann. Das Ganze endete damit, dass ich entnervt einen anderen Schalter aufsuchen musste.»

Geräusche des Windes

Frau Rau erzählt, dass sie ausser den erwähnten Ausnahmen jedoch kaum Probleme mit ihrer Hörbehinderung hat. «Es gibt aber Momente, selten zwar, wo ich sie verfluche. Ich vermisse als kommunikativer Mensch die Unbeschwertheit und Spontanität in Gesprächen mit Hörenden einzusteigen, teilnehmen und einfach mitreden zu können.» Zudem würde sie sehr gerne einmal erleben, was es heisst, hören zu können. «All die Geräusche des Windes, eines Vogels oder eines Lieblingssongs. Damit ich einmal in die hörende Welt meiner nahestehenden Personen eintauchen und diese fühlen könnte.»
Behindert werden

«Ich fühle mich nicht behindert. Ich habe mein Leben, das ich kenne und ich kenne es nicht anders.» Aber sie spricht auch die Barrieren an: «Wir kämpfen jeden Tag mit Barrieren, die uns die Teilhabe an der Gesellschaft erschweren oder ganz verhindern. Erst das gibt mir das Gefühl, behindert zu werden.» In diesem Zusammenhang betont Frau Rau die Wichtigkeit der Teilhabe an der Gesellschaft. «Sie ist noch nicht inklusiv. Es muss mehr für den Zugang zu Bildung, Arbeit, Gesundheitsvorsorge und Freizeit sowie auch im digitalen Raum getan werden.»

Artikel und Interview: Jasmin Cahannes, EBGB. Das Interview wurde im Oktober 2021 schriftlich auf Deutsch geführt.

Bahnen bei der Behindertengerechtigkeit der Bahnhöfe weiterhin stark gefordert

(admin.ch)

Gemäss den neusten verfügbaren Daten können 69 Prozent der Bahnreisenden von behindertengerechten Bahnhöfen profitieren; im Verlauf des Jahrs 2020 sind 35 Bahnhöfe dazu gekommen. Dies geht aus dem neusten Standbericht des Bundesamts für Verkehr (BAV) zur Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes an den Bahnhöfen und Bahn-Haltestellen hervor. Die Bahnen bleiben aber weiterhin stark gefordert, um die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen.

Bis Ende 2023 müssen die Bahnhöfe und Eisenbahn-Haltestellen der Schweiz baulich an die Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) angepasst werden, soweit solche Anpassungen verhältnismässig sind. Für die Umsetzung sind die Bahnen verantwortlich. Das BAV unterstützt sie dabei.

Wie der neuste Standbericht des BAV zeigt, entsprach Ende 2020 knapp die Hälfte der Bahnhöfe und Haltestellen den Vorgaben: 908 der total 1800 Stationen können von Personen mit Beeinträchtigungen autonom und spontan benutzt werden. Das sind 35 mehr als im Vorjahr. Weil die grossen Bahnhöfe prioritär angepasst werden, sorgen die Verbesserungen dafür, dass 69 Prozent aller Reisenden von den behindertengerechten Umbauten profitieren.

Gemäss aktueller Planung der Bahnen werden bis zum Ablauf der gesetzlichen Frist per Ende 2023 weitere 292 Bahnhöfe baulich angepasst sein. Damit wird sich der Anteil der Passagiere, die autonom und spontan reisen können, auf 85 Prozent erhöhen. 386 Bahnhöfe oder Eisenbahn-Haltestellen werden von den Bahnen erst nach Ablauf der gesetzlichen Frist angepasst.

Gegenüber dem letzten Standbericht hat sich die Zahl der Bahnhöfe erhöht, die verspätet umgebaut werden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verfeinerung der Planung an verschiedenen Orten der Zeitplan angepasst werden musste. Die Bahnen geben als Grund für die Verzögerung an, dass sie zu wenig Personal für die Planung haben und es nicht genügend Zeitfenster gibt für die Umbauten. In allen Fällen werden jedoch Teilinbetriebnahmen angestrebt.

Bei 146 der 386 verspäteten Umbauprojekte werden die Bauarbeiten innert der Sanierungsfrist gestartet. Für alle Projekte, deren Baubeginn erst später erfolgt, hat das BAV verbindliche Termin- und Finanzierungspläne eingefordert. Damit soll sichergestellt werden, dass es nicht zu weiteren Verzögerungen kommt. Für 240 Bahnhöfe und Haltestellen liegt eine derartige Umsetzungsplanung vor.

In rund sieben Prozent aller Fälle ist eine bauliche Anpassung unverhältnismässig, weil u.a. das Passagieraufkommen im Verhältnis zu den Kosten nur sehr klein ist. Hier müssen spätestens ab Ende 2023 Ersatzmassnahmen angeboten werden. In der Regel steht die Hilfestellung durch Personal des Unternehmens im Vordergrund.

Standbericht Umsetzung BehiG Ende 2021

Zur Rose und der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband vereinfachen die Medikamenteneinnahme für Personen mit Sehbeeinträchtigung

(EQS News)

Zur Rose und der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband vereinfachen die Medikamenteneinnahme für Personen mit Sehbeeinträchtigung.

Eine korrekte Medikamenteneinnahme ist entscheidend für den Therapieerfolg und insbesondere bei gleichzeitiger Einnahme verschiedener Medikamente oft eine Herausforderung. In Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) passt Zur Rose ihre Medikamenten-Box mit individuell sortierten und abgepackten Medikamenten deshalb an die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung an und macht die Medikationsinformationen barrierefrei zugänglich. Dies erhöht die Medikationssicherheit und ermöglicht den von Sehverlust betroffenen Personen ein selbständiges Medikationsmanagement.

In der Schweiz leben rund 377’000 Menschen mit einer Sehbehinderung. Die Medikamenteneinnahme ist für sie oft eine besondere Herausforderung, vor allem wenn mehrere Medikamente gleichzeitig eingenommen werden. Für die korrekte Bereitstellung sind sie meist auf die Unterstützung von sehenden Personen angewiesen. Zusammen mit dem SBV hat die Online-Apotheke Zur Rose ihre Dailymed-Box mit individueller Verblisterung daher speziell auf die Bedürfnisse von Personen mit Sehbeeinträchtigung angepasst.

Kontrastreiche Schrift und QR-Code

In der personalisierten Dailymed-Box sind die einzunehmenden Medikamente gemäss ärztlicher Verordnung in einzelne Beutel verpackt, die nach Medikationszeitpunkt geordnet sind. Damit auch Menschen mit Sehbeeinträchtigung barrierefreien Zugang zu den wichtigen Medikationsinformationen haben, wurde auf den Beuteln ein QR-Code angebracht, der sich einfach mit dem Smartphone scannen lässt. Die im Smartphone integrierte Sprachausgabe liest nach erfolgreichem Scannen die in Textform hinterlegten Informationen vor. Für eine bessere Lesbarkeit wurde zudem auf den Beuteln die Schrift angepasst und der Kontrast erhöht. Zudem sind sie mit einer speziellen Perforierung versehen, die das Ertasten und Abreissen vereinfacht.

Massgebend für die sehbehinderungsgerechte Entwicklung der Medikamenten-Boxen waren die Zusammenarbeit mit den Experten des SBV sowie die Rückmeldungen von sehbehinderten Personen, die das Produkt getestet haben. Eine blinde Testperson sagt dazu: «Nun kann ich die Medikamente einnehmen, ohne jemanden fragen zu müssen. Das ist für mich ein weiterer Schritt hin zur Selbständigkeit.»


Dailymed-Box für Personen mit Sehbeeinträchtigung

 

Emanuel Lorini, Geschäftsführer Zur Rose Schweiz, zeigt sich erfreut: «Eine korrekte und sichere Medikamenteneinnahme ist entscheidend für den Therapieerfolg. Wir freuen uns, dass wir mit dem QR-Code auf unserer Dailymed-Box die Informationen zur Einnahme nun barrierefrei zugänglich machen und Menschen mit Sehbeeinträchtigung so bei der Medikamenteneinnahme unterstützen können.»

Die beiden Partner werden auch die Informationen auf Fertigarzneimitteln entsprechend anpassen. Mit Teilen des Erlöses der speziell entwickelten Medikamenten-Box unterstützt Zur Rose Projekte des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes, die den Alltag von Menschen mit Sehbeeinträchtigung erleichtern.


Kontakt:

Zur Rose:
Pascale Ineichen, Leiterin Kommunikation Zur Rose Suisse AG
Direktwahl +41 52 724 08 18 | E-Mail: media@zurrose.com

Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband SBV:
Daniela Moser, Interessenvertretung SBV
Direktwahl +41 31 390 88 61 | E-Mail: daniela.moser@sbv-fsa.ch

Ungerechte medizinische Grundversorgung

(Inclusion-Handicap)

Der Nationalrat ist heute dem Ständerat gefolgt und hat die Möglichkeit schwarzer Listen weiterhin den Kantonen überlassen. Konkret: Wer der Prämienpflicht trotz Betreibungen nicht nachkommen kann, erhält von der Krankenversicherung nur noch die Kosten von Notfallbehandlungen vergütet. Für Inclusion Handicap ist dieses Vorgehen verantwortungslos.

Diese von gewissen Kantonen geführten sogenannten schwarzen Listen haben teilweise gravierende Auswirkungen. Tragisches Beispiel aus dem Jahre 2018: Einem HIV-positiven Patienten wurden aufgrund der Liste seines Wohnkantons die zur Behandlung notwendigen Medikamente verweigert, was später dazu führte, dass der Mann verstarb. Eine Mehrheit der Kantone hat diese Listen nie eingeführt oder bereits wieder abgeschafft. Auch der Bundesrat plädierte für eine Abschaffung der schwarzen Listen. Der heutige Entscheid des Nationalrates führt dazu, dass Versicherte nicht in allen Kantonen gleichbehandelt werden: Die medizinische Grundversorgung wird dadurch zufällig und ungerecht.

Gefahr für lückenlose medizinische Versorgung

«Manche Personen geraten mit den Prämienzahlungen in Verzug, nicht weil sie zahlungsunwillig sind, sondern nahe der Zahlungsunfähigkeit», so Matthias Kuert Killer, Leiter Politik bei Inclusion Handicap. Gerade Menschen mit Behinderungen trifft es häufig doppelt: Sie weisen überdurchschnittlich oft ein tiefes Einkommen auf und haben gleichzeitig aufgrund ihrer Beeinträchtigung ohnehin schon höhere Gesundheitskosten. Dies führt immer wieder einmal dazu, dass sie ihre Krankenkassenprämien und ihre Kostenbeteiligungen nicht oder nicht rechtzeitig begleichen können. Insbesondere Menschen mit chronischen Krankheiten sind aber dringend und ohne Unterbruch auf notwendige medizinische Behandlungen angewiesen. Durch die von einigen Kantonen geführten schwarzen Listen wird dies verhindert. Es kommt zu langwierigen Streitigkeiten über die Übernahme von medizinischen Behandlungskosten durch die Krankenkassen. Dadurch verstreicht kostbare Zeit, in der sich der Gesundheitszustand der Betroffenen erheblich zu verschlechtern droht. Für Menschen mit Behinderungen ist es von elementarer Bedeutung, dass sie vollen Zugang zu den medizinischen Leistungen erhalten. Inclusion Handicap wird sich weiterhin dafür einsetzten, dass die Kantone von sich aus auf das Führen von schwarzen Listen verzichten.

Medienmitteilung vom 16.12.2021 (pdf)


Auskunft

Matthias Kuert Killer, Leiter Politik Inclusion Handicap
031 370 08 39, matthias.kuert@inclusion-handicap.ch

Julie Tarchini, Kommunikationsverantwortliche Inclusion Handicap
031 370 08 41, julie.tarchini@inclusion-handicap.ch

„Ich wünsche mir Fest, dass wir umdenken“

(Das Magazin für die WirtschaftsFrau)

Interview mit Frau Barbara Bräm, Mitgründering von mitschaffe.ch

Guten Tag Frau Bräm. Sie sind zusammen mit Thomas Bräm Mitinhaberin von mitschaffe.ch. Was genau macht Ihr Unternehmen?

Im Grunde genommen, sind wir eine normale Personalvermittlungsfirma, mit dem Unterschied,dass wir Menschen mit Handicap – also einer körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigung -in den ersten Arbeitsmarkt vermitteln. Wir bieten ein Coaching als Unterstützung an. Der Aufbau einer Anstellung ist ganz normal: bewerben, vorstellen, schnuppern, begleiten, Vertrag abschliessen und danach die Probezeit. Wir haben regelmässigen Kontakt zu den Unternehmen und den Menschen mit Handicap. Einmal im Jahr haben wir ein Mitarbeitergespräch, in dem geschaut wird, ob noch alles in Ordnung ist.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, mitschaffe.ch zu gründen?

Mein Mann hat eine Institution für Menschen mit Handicap geleitet und festgestellt, dass es nur schwer möglich ist, Menschen mit Handicap in denersten Arbeitsmarkt zu integrieren.Erhat dann über mögliche Gründe nach gedacht und in verschiedenen Gewerbeverbänden nach den Ursachen gefragt.

Was war für Sie persönlich der bedeutendste Moment,seites mitschaffe.ch gibt?

Einige Stiftungen habenuns finanziell unterstützt. So konnten wir die Startphase gut bewältigen und professionell und wirtschaftlich arbeiten. Es fasziniert mich, wie sich Kunden und Mitarbeiter für diese Sache begeistern lassen.

War es schwierig, bis Sie das erste Unternehmen an Bord hatten oder ging dies relativ schnell?

Wir hatten Beziehungen zueiner Präsidentin eines Gewerbeverbandes. An einer Generalversammlung durften wir mitschaffe.ch vorstellen und konnten dieerstenStellen bei interessierten Handwerkern vermitteln. Zusätzlich nutzten wir das private Netzwerk.

Hatten Sie auch schon negative Erlebnisse? Wenn ja, welche?

Ja natürlichhatten wir auch schon negative Erlebnisse. Es gibt Situationen, welche mich persönlich betroffen machen. Zum Beispiel, wenn eine Firma eine Person mit Handicap ausnutzt, indem sie wenig Lohn für möglichst normale Leistung bezahlt.

Im Umgang mitLeuten mit Handicap ist noch viel Aufklärung nötig. Was sollten Firmen, welche gernesolcheMitarbeiter:innen einstellen unbedingt wissen?

Viele Menschen denken, sie müssen unseren Leuten viel und abwechslungsreiche Arbeiten bieten. Wir beobachten aber, dass unsere Leute repetitive Arbeiten mögen. Das gibt Sicherheit.

Was hindert Firmen hauptsächlich daran, Menschen mit Handicap einzustellen?

Es gibt viele Jobs, die wegrationalisiert wurden. Gerne eruieren wir mit den Kunden, welche Arbeiten für die jeweiligen Menschen mit Handicap geeignet wären. Weitere Gründe sind, dassdie Firmen oftmals nicht wissen, wie sie mit unseren Mitarbeitern umgehen sollen. Ausserdem scheuen sie den administrativen Aufwand. Aus diesen Gründen heraus haben wir unser Geschäftsmodell entwickelt.

Die Schweiz hat die UNO -Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung im Jahr 2014 ratifiziert. Was ist die Kernbotschaft dieser Konvention?

Die Kernbotschaft ist, dass Menschen mit Handicap am normalen Leben teilnehmen können. Mit allen Rechten und Pflichten.

Wir sind also verpflichtet, Menschen mit Beeinträchtigung gleich zu behandeln.Ist das der Fall oder gibt es noch Verbesserungspotenzial?

Es gibt noch sehr viel Verbesserungspotenzial. Die Schweiz steht da leider nicht an vorderster Front. Glücklicherweise beobachten wir
aber ein Umdenken.

Wieso werden Menschenmit einem Handicap oftmals doch nicht gleich behandelt?

Ich weiss es nicht aber unsere Erfahrungist,dass viele Leute Ängste im Umgang haben. Der zweite Punkt ist, viele Schweizerinnen und Schweizer wissen noch nicht, dass eine solche Konvention existiert.Zudem ist das Wort Inklusion zu wenig bekannt. Pro Infirmis hat dazu einen tollen Flyer gestaltet. Uns ist es wichtig, dass Menschen mit Handicap eine Stimme bekommen.

Gibt es etwas, was jede und jeder anders machen könnte, um solche Menschen mehr in die Gesellschaft aufzunehmen?

Ich wünsche mir ein umdenken der Gesellschaft. Diese Menschen wollen nicht separiert werden. Wir alle haben irgendwo ein Handicap. Ich wünsche mir mehr Mut zum Thema Inklusion und noch mehr Engagement. Es wäre schön, wenn jede und jeder seinen Beitrag dazu leistet.

Ihr Netzwerk ist vor allem im Kanton Schaffhausen. Sie haben jedoch auch Kontakte in Bern, Thurgau, Basel, Olten, Solothurn und im Wallis. Was sind ihre nächsten Ziele?

Das Ziel unserer Firma ist, noch mehr Partner in anderen Kantonen zu finden. Unser Wunsch ist, dass in der ganzen Schweiz möglichst viele Menschen mit Handicap im ersten Arbeitsmarkt arbeiten können. Ausserdem wäre es schön, wenn Inklusion zur Normalität wird.


Barbara Bram, Mitgrünclering von mitschaffe ch

 


Herr B. arbeitet in Smilestones Neuhausen

 


Herr S.in einer Restaurantküche

 

Sozialminister Main Berset lasst Behinderte im Stich

(Schweiz am Wochenende / Luzerner Zeitung)

Der Bundesrat will die Missstände bei der Berechnung der IV-Renten nicht beseitigen und stellt stattdessen ein offensichtlich faireres Verfahren zur Berechnung in Frage.


Dem Bundesrat wird vorgeworfen, 300 Millionen auf dem Rücken von Klein- und Mittelverdienern sparen zu wollen. Bild: Getty Images

 

Andrea Tedeschi

Wie gerecht sind die Renten, welche die Invalidenversicherung (IV) heute festlegt? Ungerecht, finden seit Jahren Fachleute und Politiker von links bis rechts, besonders jene für Gering- und Mittelverdiener. Die Kritik: mit der aktuellen Berechnung würden zu wenig Renten und Eingliederungsmassnahmen gesprochen, weil die IV von zu hohen Löhnen ausgehe. Zwei Studien konnten anfangs Jahr nachweisen, dass gesundheitlich beeinträchtigte Menschen auf dem Arbeitsmarkt «signifikant weniger» verdienen können, als von der IV angenommen. Ihre Einkommen liegen rund zehn Prozent unter jenen von Erwerbstätigen, die voll leistungsfähig sind.

Bundesrat Alain Berset könnte diesen Missstand korrigieren. Diese Woche musste er sich erstmals öffentlich dazu äussern. Berset sagte zwar, er sei offen für neue Lösungen. Eile zeigt er aber nicht: Er wolle die Studien berücksichtigen, aber zunächst die Evaluation der beiden ersten Jahre der IV-Reform abwarten. Diese tritt im Januar 2022 in Kraft.

Wartet Bundesrat auf Bundesgerichtsentscheid?

«Damit ist klar, dass sich der Bundesrat nicht bewegen will und von ihm in den nächsten Jahren sicher keine Anpassung zu erwarten ist», sagt Alex Fischer, Leiter Politik der Behindertenorganisation Procap. Mangels korrekter Berechnung müssten viele Menschen auf einen beruflichen Neustart oder auf eine Rente verzichten und würden dadurch von der Sozialhilfe abhängig, sagt Nationalrätin Barbara Gysi (SP/SG).

Im November hatte Berset bereits klar gemacht, dass er nichts ändern will. Er schrieb die umstrittene Berechnung in die Verordnung – entgegen dem Willen der Sozialkommission des Nationalrates und der überwiegenden Mehrheit der Parteien, Kantone, Juristen und Verbände. Sie werfen dem Bundesrat vor, 300 Millionen zum Nachteil der Klein- und Mittel-verdiener sparen zu wollen.

Auftrieb erhalten Kritiker durch einen Berechnungsvorschlag, den eine Arbeitsgruppe rund um Gabriela Riemer-Kafka, emeritierte Professorin für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht, seit 2020 erarbeitet hatte. Ihre Arbeit war ausschlaggebend, dass das Bundesgericht vor wenigen Wochen einen mit Spannung erwarteten Entscheid zur Berechnung der IV-Rente kurzfristig vertagte.

Noch prüft das Bundesgericht den Vorschlag. Trotzdem stellen Bundesrat und das Bundesamt für Sozialversicherungen in Frage, inwiefern dieser von der IV herangezogen werden könne. Es fokussiere auf körperliche Einschränkungen und berücksichtige psychische Beeinträchtigungen nicht.

Alles vorgeschobene Kritik des Bundes?

«Eine unbeholfene Antwort, die am Problem vorbeizielt», sagt Riemer-Kafka. Nicht nur könne eine psychische Beeinträchtigung präziser eruiert werden. Sie habe mehrfach festgehalten, dass dieses Instrument gleichzeitig körperliche, psychische und kognitive Funktionen erfasse und somit für psychisch beeinträchtige Menschen eingesetzt werden könne, sofern das Bundesgericht ihr Instrument zuliesse. Weiter moniert der Bund, das neue Instrument liesse sich nicht auf die Neuerungen in der IV-Revision anwenden. Riemer-Kafka kontert: «Neu wird die präzise Berechnung des IV-Grads noch wichtiger. Unser Vorschlag leistet dazu auch nach neuem Recht einen Beitrag.»

Anders als heute analysiert ihr Verfahren die körperlichen Beeinträchtigungen auf eine reale Tätigkeit hin, zum Beispiel, ob jemand noch knien, sitzen oder schwere Lasten über den Kopf tragen kann. So kann die effektive Arbeitsunfähigkeit eindeutiger eruiert werden.

Riemer-Kafka glaubt, der Bund warte den Entscheid des Bundesgerichts ab. Schlimmstenfalls gebe das Bundesgericht Riemer-Kafkas Vorschlag zur Prüfung an den Bund weiter, sagen Kenner des Dossiers. Dann sei die aktuelle Berechnung für Jahre zementiert. Die Sozialkommission des Nationalrates will nicht zuwarten. Sie hat den Bundesrat um rasches Handeln und neue Vorschläge gebeten.

Keine speziellen Stimmzettel für Blinde und Sehbehinderte

(St. GallerTagblatt / St. Gallen-Gossau-Rorschach)

Abstimmen In der Stadt St. Gallen wird es keine speziellen Wahl- und Stimmzettel auf Papier für Menschen mit einer Sehbehinderung geben. Diese müssen heute eine Vertrauensperson beiziehen, wenn sie wählen oder stimmen wollen, weil es keine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Möglichkeiten der Stimmabgabe gibt. Das soll sich allerdings noch im Laufe der Amtszeit 2021 bis 2024 mit der Einführung der Möglichkeit fürs elektronische Wählen oder Stimmen ändern.

Stadt setzt auf E-Voting

Mit E-Voting sei die weitgehend barrierefreie Teilnahme sowohl an Abstimmungen aller drei Staatsebenen wie auch an Majorz- und Proporzwahlen möglich, schreibt der Stadtrat in Beantwortung einer Einfachen Anrage der Fraktion von Mitte und EVP im Stadtparlament. Die Standardisierung von Stimmund Wahlzetteln, damit Blinde und Sehbehinderte sie selber ausfüllen können, sei sehr aufwendig und löse letztlich auch nicht alle Probleme.

Das Wahl- und Stimmbüro der Stadt St. Gallen hat gemäss stadträtlicher Antwort zusammen mit Fachleuten auch geprüft, Stimmzettel in Blindenschrift zu produzieren. Dies sei zwar technisch möglich, aber aus organisatorischen und terminlichen Gründen vor Wahl- und Abstimmungswochenenden «sehr schwierig». Hinzu komme, dass die Produktion solcher speziellen Zettel mit hohen Kosten verbunden sei.Und dass auch nicht alle Personen mit einer Sehbehinderung die Braille-Schrift lesen könnten.(vre)

Was ändert bei der IV ab Januar 2022?

(Schweiz am Wochenende / Bündner Zeitung)

Die Weiterentwicklung der IV tritt am 1. Januar 2022 in Kraft. Die Gesetzesrevision bringt insbesondere Verbesserungen für Kinder, Jugendliche und Menschen mit psychischen Problemen. Zudem werden bei den medizinischen Begutachtungen Massnahmen zur Qualitätssicherung und für mehr Transparenz eingeführt.

von Thomas Pfiffner


Gesetzesrevision und Weiterentwicklung bei der IV bringen Unterstützung für Jugendliche mit gesundheitlichen Einschränkungen und psychisch erkrankte Versicherte. Bild 123rf

 

Die Weiterentwicklung der IV (Weiv) hat zum Ziel, insbesondere Kinder und Jugendliche mit gesundheitlichen Einschränkungen und psychisch erkrankte Versicherte gezielter zu unterstützen. Damit soll das vorhandene Eingliederungspotenzial gestärkt und die Vermittlungsfähigkeit verbessert werden. Unter anderem intensiviert die IV die Zusammenarbeit insbesondere mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie den Arbeitgebenden als beteiligte Akteure. Weiter werden die Massnahmen für Jugendliche aufeinander abgestimmt und näher am ersten Arbeitsmarkt ausgerichtet. Die Beratung und Begleitung von jungen Versicherten wie auch von Fachpersonen aus Schule und Ausbildung werden ausgebaut und verstärkt. Die bei Erwachsenen bewährten Instrumente der Früherfassung und der sozialberuflichen Integrationsmassnahmen
werden auf Jugendliche ausgeweitet.

Neue Regeln im Gutachterwesen

Im Rahmen der Weiv werden die Abklärungsmassnahmen und das Verfahren im Zusammenhang mit medizinischen Begutachtungen für alle Sozialversicherungen einheitlich geregelt. Bei der Vergabe von Gutachtensaufträgen sollen sich Versicherung und versicherte Person einvernehmlich auf einen Auftragnehmer einigen. Zudem wird bei den Begutachtungen mehr Transparenz geschaffen, indem die Interviews der Sachverständigen mit den versicherten Personen neu mit einer Tonaufnahme erfasst und zu den Akten genommen werden. Hinzu kommen weitere neue Regelungen im Gutachterwesen, die spezifisch für die IV vorgesehen sind. So muss diese beispielsweise eine öffentlich zugängliche Liste mit Angaben der von ihr beauftragten Sachverständigen führen.

Einführung stufenloses Rentensystem

Damit der Anreiz besteht, die Erwerbstätigkeit zu erhöhen, wird für Neurenten ein stufenloses System eingeführt. Im bisherigen Rentensystem mit vier Stufen ist es für viele IV-Rentnerinnen und-Rentner nicht attraktiv, mehr zu arbeiten, weil sich wegen Schwelleneffekten ihr verfügbares Einkommen nicht erhöht. Ab einem IV-Grad von 70 Prozent bleibt eine ganze Rente zugesprochen. Mit der
Einführungdes stufenlosen Rentensystems durch die Weiv erhält die prozentgenaue Erhebung des IV-Grades einen höheren Stellenwert. Denn für die Rentenhöhe kommt es neu auf jedes Prozent IV-Grad an.

Geburtsgebrechen: Neue Grundlagen

Die IV finanziert Kindern und Jugendlichen die medizinische Behandlung von bestimmten Geburtsgebrechen. Mit der Weiv werden klare Kriterien im Gesetz als Entscheidungsgrundlage festgeschrieben, ob ein Leiden als Geburtsgebrechen gilt und somit die IV die Behandlungskosten übernimmt.

Die Liste der Geburtsgebrechen wird aktualisiert. Leiden, die heute einfach behandelt werden können, werden künftig von der Krankenversicherung übernommen. Andere Leiden, namentlich seltene Krankheiten, werden neu durch die IV übernommen.

Thomas Pfiffner ist Leiter 1V-Stelle Graubünden


IV- Stelle Graubünden

Die IV-Stelle ist Teil der SVA Graubünden mit Hauptstandort an der Ottostrasse 24 in Chur. Knapp go Mitarbeitende (rund 7o Vollzeitstellen) erbringen in sechs Teams folgende Leistungen: Eingliederung, Berufsberatung, Koordination Eingliederung/Rente, Sachleistungen, Hilflosenentschädigung und Abklärungsdienst. Das Team Services und die Stabsteilen Applikations-/Prozessmanagement und Bekämpfung Versicherungsmissbrauch unterstützen diese Leistungsabläufe. Der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) berät die 1v-Stelle und ist in deren Räumlichkeiten untergebracht. Organisatorisch ist er dem RAD Ostschweiz zugeordnet, dessen Hauptsitz sich in St.Gallen befindet.
Mehr Infos unter www.sva.gr.ch

Mehr Wahlfreiheit für Menschen mit Behinderung

(Neue Zürcher Zeitung)

Breite Unterstützung für einen Gesetzesentwurf, der den Forderungen einer Uno-Konvention Rechnung trägt.

Von Dorotée Vögeli


Betroffene sollen ihre Wohnsituation künftig selber gestalten können.
Gaëtan Bally/Keystone

 

Menschen mit einer Behinderung sollen frei entscheiden können, ob sie Unterstützung wünschen und, wenn ja, welche. Ob sie Hilfe in einer Institution oder zu Hause erhalten, soll keine Rolle mehr spielen. Das verlangt die Uno-Behindertenrechtskonvention. 2014 hat sie die Schweiz ratifiziert. Ein grosser Umsetzungsschritt ist nun im Kanton Zürich auf guten Wegen. Wie die zuständige Kantonsratskommission mitteilt, stellt sie sich einstimmig hinter den Gesetzesentwurf des Sozialdirektors Mario Fehr (parteilos), der einen Systemwechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung ermöglicht.

Heute unterstützt der Kanton Zürich Menschen mit Behinderung nur dann finanziell, wenn sie in einer Institution leben. Das schränkt nicht nur die Wahlfreiheit der Betroffenen ein, sondern verhindert alternative Wohn- und Betreuungsangebote. Mit dem neuen Selbstbestimmungsgesetz wird sich das ändern. Künftig sollen die Behörden die IV-Renten und Hilflosenentschädigungen nicht mehr den Behinderteninstitutionen, sondern direkt den Betroffenen überweisen. Diese können dann selbst entscheiden, ob sie ein externes Unterstützungsangebot beanspruchen wollen.

Auch Private entschädigen

Die Kosten des schrittweisen Aufbaus eines ambulanten Angebotes, mit dessen Anbietern der Kanton Leistungs- vereinbarungen abschliessen wird, schätzt der Regierungsrat auf jährlich 15 bis 30 Millionen Franken. Langfristig dürften sich aber die Investitionen für den Kanton auszahlen, wie die Regierung in ihrem Antrag schreibt. Würden künftig verstärkt ambulante Angebote statt die Dienstleistungen von Wohnheimen oder Werkstätten genutzt, lasse sich das Kostenwachstum im Behindertenbereich bremsen.

Das neue Gesetz wurde in enger Zusammenarbeit mit dem kantonalen Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderung (Insos) erarbeitet. Dessen Geschäftsleiterin Sabrina Gröbli zeigte sich am Donnerstag sehr erfreut über die einstimmige Annahme des Gesetzesentwurfs in der Kommission. Zu den einzelnen Anträgen wollte sie sich aber noch nicht äussern. Deren konkrete Inhalte würden in Verordnungen festgelegt. Insos werde auch in den Detailfragen mit dem kantonalen Sozialamt in einem engen Austausch stehen, sagte Gröbli.

Anders als von der Regierung vorgesehen beantragt die Kommission dem Kantonsrat, auch Privatpersonen und nicht nur professionelle Anbieter für ihre Hilfestellungen zu entschädigen. In der Realität seien es oft Freunde oder Nachbarn, die sich mehrmals täglich kurz Zeit für Unterstützungsleistungen nehmen würden, schreibt die Kommission in ihrer Mitteilung. Deshalb sollen ihres Erachtens hilfeleistende Privatpersonen mittels Vouchers oder Geld entschädigt werden können.

Menschen mit einer Behinderung, die für ihre Betreuung zu Hause Drittpersonen anstellen und dafür Assistenzbeiträge aus der Invalidenversicherung erhalten, sollen aus Sicht der Kommissionsmehrheit anstelle von Vouchers einen gewissen Geldbetrag zur Selbstverwaltung erhalten können. Eine Minderheit aus SP, Grünen und EVP fordert, den Betroffenen den vollen Leistungsanspruch auszuzahlen und auf Vouchers zu verzichten. Der Regierungsrat sieht dies nur in Ausnahmefällen vor.

Unbestritten ist in der Kommission, dass das Kernelement des neuen Systems der Subjektfinanzierung eine Abklärungsstelle ist. Sie begrüsst deshalb die von der Regierung vorgesehene Stelle, die den individuellen Bedarf im Gespräch mit den Betroffenen ermittelt und den Leistungsanspruch bemisst. Die Kommission beantragt jedoch, die Abklärungsstelle aus der Sicherheitsdirektion auszugliedern. Für die Akzeptanz des Paradigmenwechsels sei zentral, dass die zuständige Stelle fachlich unabhängig arbeite, schreibt die Kommission. Der Branchenverband Insos Zürich unterstützt dieses Ansinnen. «Es ist wichtig, dass eine unabhängige Stelle die Abklärungen macht», sagt Gröbli.

Parteien des Lobes voll

Schliesslich möchte der Regierungsrat der Sicherheitsdirektion ermöglichen, Leistungserbringungen in Institutionen anzuordnen, wenn keine Leistungsvereinbarung zustande kommt. Eine FDP- Minderheit ist damit nicht einverstanden. Sie beantragt, dass Leistungsvereinbarungen im Einvernehmen erarbeitet werden müssen. Eine SVP-Minderheit will die Anordnungskompetenz der Direktion auf systemrelevante Anbieter beschränken.

Insgesamt ist jedoch der Grundtenor zum Gesetzesentwurf von rechts bis links sehr positiv. In Pressecommuniques waren SP, Grüne, EVP und FDP des Lobes voll. Das Selbstbestimmungsgesetz basiert auf einem Vorstoss von Mitgliedern der FDP, SP und EVP. Vor vier Jahren reichten sie eine entsprechende Motion ein. Viele Menschen mit Beeinträchtigungen, die im Alltag regelmässig auf die Unterstützung Dritter angewiesen sind, ziehen eine autonome Lebensgestaltung einem Aufenthalt in einer Institution vor, wie die FDP am Donnerstag schreibt. Diese Menschen sollen aus Sicht der FDP ihr Leben selber gestalten können.

Heute unterstützt der Kanton Menschen mit Behinderung nur dann finanziell, wenn sie in einer Institution leben.

Andere Menschen mit Beeinträchtigungen wiederum seien auf Institutionen angewiesen oder würden lieber in einer Institution leben. Auch dies müsse durch das Finanzierungssystem weiterhin gewährleistet sein, heisst es im Pressecommunique.

Die Möglichkeit, Leistungsvereinbarungen mit Privatpersonen abzuschliessen, sei ein zentrales Anliegen der FDP und der Kommission. Auch die Sicherheitsdirektion begrüsse die entsprechende Anpassung der Vorlage. SP, Grüne und EVP freuen sich ebenfalls über die breite Unterstützung für das neue Selbstbestimmungsgesetz. Es sei ein erster Schritt in der konkreten Umsetzung der Uno-Behindertenrechtskonvention, schreibt die SP.

Die Museen des BAK stärken die Inklusion

(edi.admin.ch/de)

Die Museen des Bundesamtes für Kultur (BAK) setzen in den kommenden Jahren einen Schwerpunkt mit Massnahmen zur Stärkung der Inklusion. Zu diesem Zweck haben sie mit der Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis Partnerschaften abgeschlossen. Kernanliegen des Labels «Kultur inklusiv» bildet die ganzheitliche Inklusion von Menschen mit Behinderung.

Mit dem Ziel, die selbstverständliche Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderungen am kulturellen Leben weiterhin zu fördern und nachhaltig in den Institutionen zu verankern, planen die Sammlung Oskar Reinhart «Am Römerholz» in Winterthur ZH, das Museum für Musikautomaten in Seewen SO sowie das Museum Kloster Sankt Georgen in Stein am Rhein SH ein Bündel an Massnahmen. Für das Museo Vincenzo Vela in Ligornetto besteht eine solche Partnerschaft bereits seit Sommer 2019. Die Museen anerkennen zudem die «Charta zur kulturellen Inklusion» der Fachstelle Kultur inklusiv von Pro Infirmis.

Die geplanten Massnahmen betreffen das kulturelle Angebot, den inhaltlichen Zugang, bauliche Aspekte, Arbeitsangebote sowie die Kommunikation. Ein besonderer Fokus liegt auf entsprechenden Vermittlungsangeboten, beispielsweise für Menschen mit kognitiven oder körperlichen Beeinträchtigungen. Die Gestaltung eines attraktiven und partizipativen Vermittlungsangebotes für unterschiedliche und neue Besuchergruppen ist in der Kulturbotschaft 2021-24 als eine Kernaufgabe der Museen des Bundes formuliert. Vorgesehen sind auch die Erweiterung der Webseiten in Richtung «einfache Sprache» und bauliche Massnahmen für einen barrierefreien Zugang zu den Räumlichkeiten der Museen und zu Veranstaltungen.

Pro Infirmis als Vergabestelle des Labels «Kultur inklusiv» berät die Labelpartner bei Bedarf zu den Themen Zugänglichkeit und Inklusion und vernetzt sie mit Beratungsstellen, Akteurinnen und Akteuren aus dem Sozialwesen und mit anderen Labelpartnern.


Adresse für Rückfragen

Daniel Menna, stv. Leiter Kommunikation, Bundesamt für Kultur BAK, daniel.menna@bak.admin.ch, +41 58 469 69 50