Die Unzufriedenheit wächst

(Jungfrau Zeitung)

Fast drei Viertel der Menschen mit Behinderungen sind erwerbstätig. Ihre Lebensqualität am Arbeitsplatz ist jedoch weniger gut.


Menschen mit Behinderungen werden am Arbeitsplatz häuf diskriminiert Foto Keystone Gaëtan Bally

 

Gleichstellung

Menschen mit Behinderungen geben seltener an, mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein, als Personen ohne Behinderungen (67 Prozent gegenüber 81 Prozent), und sie erfahren in erhöhtem Mass Gewalt und Diskriminierung (26 Prozent gegenüber 18 Prozent). Das teilte das Bundesamt für Statistik (BFS) am Montag zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember mit. Die Ergebnisse von 2019 basieren auf den Indikatoren zur Gleichstellung.

Menschen mit Behinderungen nehmen demnach weitgehend am Erwerbsleben teil, selbst wenn sie bei Aktivitäten des täglichen Lebens stark eingeschränkt sind. 72 Prozent der Menschen mit Behinderungen beteiligen sich am Arbeitsmarkt, bei den Menschen ohne Behinderungen sind es 87 Prozent. Auch nach Geschlecht betrachtet, ist die Erwerbstätigkeit von Menschen mit Behinderungen geringer. So arbeiten 68 Prozent der Frauen und 78 Prozent der Männer. Bei Frauen und Männern ohne Behinderungen sind es 83 Prozent beziehungsweise 91 Prozent.

Jede Dritte unzufrieden mit Arbeitsklima

Der Anteil der Erwerbstätigen, die sowohl mit ihrem Erwerbseinkommen als auch mit den Arbeitsbedingungen und dem Arbeitsklima zufrieden sind, ist bei Personen mit Behinderungen tiefer als bei jenen ohne Behinderungen (67 Prozent gegenüber 81 Prozent). Bei stark eingeschränkten Personen sind es 57 Prozent. Frauen mit Behinderungen sind mit ihren Arbeitsbedingungen zufriedener als Männer (7o Prozent gegenüber 64 Prozent). Bei der Bevölkerung ohne Behinderungen besteht laut BFS kein signifikanter Unterschied nach Geschlecht.

Häufiger Benachteiligung und Gewalt ausgesetzt

Menschen mit Behinderungen sind am Arbeitsplatz zudem häufiger Gewalt oder Diskriminierung ausgesetzt. 2017 gaben 26 Prozent der Beschäftigten mit Behinderungen an, in den letzten zwölf Monaten vor der Erhebung mindestens eine der neun abgefragten Formen von Benachteiligung oder Gewalt erfahren zu haben. Dazu zählten Benachteiligung aufgrund von Alter, Geschlecht, Herkunft oder Behinderung, verbale oder körperliche Gewalt, Drohungen, Einschüchterung, Mobbing oder sexuelle Belästigung. Bei den Personen ohne Behinderung belief sich dieser Anteil auf 18 Prozent.
sda /ndb

Menschen mit Behinderungen sind mit der Lebensqualität am Arbeitsplatz weniger zufrieden

(bfs admin.ch)

Menschen mit Behinderungen nehmen weitgehend am Arbeitsmarkt teil (2019: 72%). Ihre Lebensqualität ist jedoch weniger gut: Sie geben seltener an, mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein als Personen ohne Behinderungen (67% gegenüber 81%) und erfahren in erhöhtem Mass Gewalt und Diskriminierung (26% gegenüber 18%). Diese Ergebnisse beruhen auf den Indikatoren zur Gleichstellung, die das Bundesamt für Statistik (BFS) zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember publiziert.

Die Indikatoren zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in Bezug auf die Erwerbstätigkeit wurden anhand der Daten der Erhebung über die Einkommen und die Lebensbedingungen (SILC) 2019 aktualisiert. Berücksichtigt wurden zudem die Ergebnisse der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) 2017 zu Benachteiligungen und Gewalt am Arbeitsplatz.

Arbeitsmarktteilnahme variiert je nach Behinderung und Geschlecht

Menschen mit Behinderungen im erwerbsfähigen Alter nehmen weitgehend am Erwerbsleben teil, selbst wenn sie bei Aktivitäten des täglichen Lebens stark eingeschränkt sind. 72% der Menschen mit Behinderungen beteiligen sich am Arbeitsmarkt (Menschen ohne Behinderungen: 87%). Bei stark eingeschränkten Personen sind es 47%.

Auch nach Geschlecht betrachtet ist die Arbeitsmarktteilnahme von Menschen mit Behinderungen geringer: 68% der Frauen und 78% der Männer mit einer Behinderung nehmen am Erwerbsleben teil, bei Frauen und Männern ohne Behinderungen sind es 83% bzw. 91%.

Geringere Zufriedenheit am Arbeitsplatz

Die Lebensqualität am Arbeitsplatz von Personen mit Behinderungen ist insgesamt weniger gut als jene der Bevölkerung ohne Behinderungen. Der Anteil der Erwerbstätigen, die sowohl mit ihrem Erwerbseinkommen als auch mit den Arbeitsbedingungen und dem Arbeitsklima zufrieden sind, ist bei Personen mit Behinderungen tiefer als bei jenen ohne Behinderungen (67% gegenüber 81%). Bei stark eingeschränkten Personen sind es 57%.

Frauen mit Behinderungen sind mit ihren Arbeitsbedingungen zufriedener als Männer mit Behinderungen (70% gegenüber 64%). Bei der Bevölkerung ohne Behinderungen ist kein signifikanter Unterschied nach Geschlecht festzustellen.

Menschen mit Behinderungen sind insbesondere in Bezug auf das Erwerbseinkommen (Mittelwert 6,7 gegenüber 7,4 auf einer Skala von 0 bis 10) und die Arbeitsbedingungen (7,7 gegenüber 8,0) weniger zufrieden. Zudem geben sie vermehrt an, nach der Arbeit erschöpft zu sein (4,5 gegenüber 5,4). Folglich haben sie weniger Energie, um ihren Freizeitbeschäftigungen nachzugehen und ihre Pflichten im Privatleben wahrzunehmen.

Jede vierte Person mit einer Behinderung erfährt Gewalt oder Diskriminierung

Menschen mit Behinderungen sind am Arbeitsplatz häufiger Gewalt oder Diskriminierung ausgesetzt. 2017 gaben 4% an, bei der Arbeit aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert worden zu sein. Bei stark eingeschränkten Personen beläuft sich dieser Anteil auf 12%.

26% aller Beschäftigten mit Behinderungen berichteten, in den letzten zwölf Monaten vor der Erhebung mindestens eine der neun abgefragten Formen von Benachteiligung oder Gewalt (Benachteiligung aufgrund von Alter, Geschlecht, Herkunft oder Behinderung, verbale oder körperliche Gewalt, Drohungen, Einschüchterung, Mobbing oder sexuelle Belästigung) erfahren zu haben. Bei den Personen ohne Behinderung belief sich dieser Anteil auf 18%.

Weitere aktualisierte Indikatoren

Die Indikatoren zur «Prävalenz von Behinderungen in der Bevölkerung» wurden ebenfalls anhand der Daten aus der SILC 2019 aktualisiert. Zudem wurde auf Basis der SGB 2017 sowohl der Indikator «Soziale Kontakte» aktualisiert, der mit der Häufigkeit von Einsamkeitsgefühlen sowie dem Ausmass der sozialen Unterstützung dargestellt wird, als auch der Indikator «Inanspruchnahme von Spitex-Leistungen und informeller Hilfe», der die Häufigkeit und die Art der Hilfeleistungen aufzeigt, die den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Privathaushalten mehr Selbstständigkeit im Alltag ermöglichen.

Sechs Fragen zur Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes

(Urner Wochenblatt)

Simon Gisler

Landrat:Interpellation «Hindernisfreier Zugang zum ÖV»

Der öffentliche Verkehr muss inder Schweiz bis Ende 2023 hindernisfrei gestaltet sein. Diese Frist ist im Behindertengleichstellungsgesetz festgehalten. Dies bedingt unter anderem eine flächendeckendeAnpassung derBushaltestellen, insbesondere die Perronerhöhung auf 22 Zentimeter. Der Busbahnhof des neuen Kantonsbahnhofs in Altdorf beispielsweise wird barrierefrei sein.

Sechs Fragen an die Regierung

Mit Blick auf das Inkrafttreten der neuen Regelung ab 2024 hat Eveline Lüönd (Grüne, Schattdorf) mitMitunterzeichner Marco Roeleven (FDP, Altdorf) am Mittwoch, 17. November, eine Interpellation mit sechs Fragen eingereicht. Die Schattdorfer Landrätin will vom Regierungsrat wissen, wie der genaue Fahrplan für die Umsetzung sowie die Planung entlang desKantonsstrassennetzes bis zur undnach der Frist aussieht, und welche Massnahmen der Kanton plant, um die Umsetzung des Behinderten-gleichstellungsgesetzes im ÖV weiter voranzutreiben. Weiter möchte sie wissen, nach welchen Kriterien die Anpassungen für die Umset-zung des hindernisfreien Zugangs der Haltestellen priorisiert werden, und wie die Gemeinden bei der Umsetzung unterstützt und kon-trolliert wurden respektive werden. «Wie werden die Busbetriebe, die wohl die beste Übersicht vor Orthaben, in die Planung miteinbezogen?», fragt Eveline Lüönd weiter. «Wie werden Menschen mit Behinderung in‘ die Planung einbezo-gen?» Und abschliessend: «Wiehoch sind die Finanzhilfen, welche der Bund und der Kanton für die Massnahmen geleistet haben? Wie viele finanzielle Mittel hätte derKanton insgesamt beantragen können? Wie hoch beziffert der Kanton den Mittelbedarf bis 2023?»

Elementar für die Betroffenen

Mobilität sei eine zentrale Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, so die Begründung von Eveline Lüönd für ihren
Vorstoss. Mobil zu sein, ermögliche es, eine Ausbildung zu absolvieren, berufstätig zu sein, soziale Kontakte zu pflegen und Freizeitangebote zu nützen. «Für Menschen mit Behinderungen, mobilitätseingeschränkte Seniorinnen und Senioren und Menschen mitviel Gepäck oder Kinderwagen ist es elementar, dass sie das System des öffentlichen Verkehrs gleichberechtigt und autonom nutzen, können – oder bei Bedarf Zugang zu Fahrdiensten haben», so die Grüne-Landrätin

Barrierefreiheit Claire & George lanciert zwölf barrierefreie Touren

(htr Hotel Revue)


Pixabay/Sofie Layla Thal

 

In Zusammenarbeit mit sechs Destinationen lanciert die Stiftung Claire & George erstmals mehrtägige Touren für Gäste mit Beeinträchtigungen. Die zwölf Touren umfassen ‚Erlebnisse im kulinarischen, kulturellen oder naturnahen Bereich wie Zug- und Schifffährten, Wanderungen sowie Besuche bei Winzern und im Museum. Entwickelt wurden das Angebot im Rahmen des Innotour-Projekts «Barrierefreiheit in den Destinationen» gemeinsam mit den Tourismusregionen Biel-Seeland, Interlaken, Davos Klosters, Ascona-Locarno, dem Kanton Waadt mit Morges Region und Pays-d’En-haut sowie der Stiftung Cerebral. Das Angebot richtet sich an Individualgäste aus dem In- und Ausländ, Reisebüros und Hotelgäste.
stü/pt

Links

www.claireundgeorge.ch

IV-Rente: Showdown am Bundesgericht um die 300-Millionen-Frage

(aargauerzeitung.ch)

Andrea Tedeschi


Am Versicherungsgericht Luzern hätte am Mittwoch die Verhandlung stattfinden sollen. Bild: Dominik Wunderli

 

Eine neue Berechnungsmethode macht Geringverdienern Hoffnung, endlich eine faire IV -Rente zubekommen –sofern sich das Bundesgericht über den Bundesrat hinwegsetzt.

Andrea Tedeschi

Er ist einer von vielen, doch sein Fall könnte die Schweizer Rechtsprechung entscheidend verändern. Ein damals 37-jähriger Anlageführer beantragte 2001 Leistungen bei der In validenversicherung (IV), weil er an Schulterschmerzen litt. Die Vericherung sprach ihm eine Rente zu, auf zwölf Monate befristet.

Weil die Beschwerden zunahmen, gelangte er ab 2012 wiederholt an die IV , erfolglos. Bis diese gestützt auf ein ärztliches Gutachten zum Schluss kam, dass für «einfach strukturierte, sehr leichte und wechselbelastende Tätigkeiten» eine 40-prozentige Arbeitsunfähigkeit bestehe und ihm eine Viertelsrente zusprach.

Wie üblich hatte die IV den sogenannten Medianlohn der zumutbaren Tätigkeit dem früheren Lohn gegenübergestellt. Ohne gesundheitliche Einschränkung hätte der Mann als Anlageführer 68’258 Frank en pro Jahr verdient. Für die Berechnung der Rente ging die IV für die neue Tätigkeit von einem Medianlohn von 67’766 Franken aus, wie ihn gesunde Menschen erwirtschaften könnten. Gegen diesen Entscheid ging der frühere Anlageführer vor Gericht. Sein Anwalt argumentierte, dass sei diskriminierend für behinderte Menschen und verunmögliche einen fairen Zugang zu Invalidenleistungen.

Tatsächlich konnten Rechtsprofessoren in verschiedenen Gutachten nachweisen, dass die von der IV herangezogenen Löhne aus der Lohnstrukturerhebung (LSE) zu hoch seien und um mindestens 15 Prozent tiefer sein müssten. Die meisten gesundheitlich eingeschränkten Personen würden auf dem Arbeitsmarkt bis 17 Prozent weniger verdienen. Die Berechnungsmethode ist seit Jahren ein Politikum, alle Parteien kritisieren sie, von den Grünen bis zur SVP.

Bundesrat spart auf dem Rücken der Kranken

Der Bundesrat hat am 3. November 2021 festgelegt, dass er nichts ändern will. Dabei hatte sich eine überwiegende Mehrheit der Parteien, Kantone, Juristen und Verbände in der Vernehmlassung der letzten IV-Reform für eine neue Berechnungsmethode ausgesprochen. «Die Untätigkeit des Bundesrats ist ein Skandal», sagt Michael E. Meier , Sozialversicherungsrechtler an der Universität Zürich. Der Bundesrat setze sich über den Willen einer klaren Mehrheit hinweg und negiere die Realität, nur weil eine fairere Methode offenbar bis 300 Millionen mehr koste.

«Sogar das Bundesgericht attestiert seit Jahren, dass die LSE-Tabellen unpräzise sind und höchstens als Übergangslösung taugen. Sie würden ein neues Instrument begrüssen.»

Umso erwarteter war der Fall des früheren Anlagenführer , den Bundesrichter am Mittwoch hätten öffentlich beraten sollen. Zur grossen Überraschung annullierte das Bundesgericht sie einen Tag vorher .

Kenner des Dossiers gehen davon aus, dass den Ausschlag ein neues Berechnungsverfahren für Geringverdiener gab, das eine hochkarätige Arbeitsgruppe rund um Gabriela Riemer-Kafka, emeritierte Professorin für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht, und Urban Schwegler von der Paraplegiker -Forschung Nottwil, seit Januar 2020 erarbeitet hatten. Ihnen standen kantonale Sozialversicherungsrichter , Vertreter der Suva, der IV und des Bundes, insbesondere des Bundesamtes für Statistik , zur Seite. Der Aufsatz zum Verfahren wird am Montag in der « Schweizerischen Zeitschrif t für Sozialversicherungen und berufliche Vorsorge» publiziert.

Effektive Arbeitsunfähigkeit soll eindeutiger eruiert werden.

Just am letzten Freitag konnte Riemer-Kafka die Arbeit dem Bundesgericht zustellen. Offenbar ist das Bundesgericht gewillt, das neue Verfahren zu prüfen. «Aufgrund der neuen Tatsachen, die sich durch die neue Tabelle ergibt, konnte das Bundesgericht gar nicht anders entscheiden», sagt Riemer-Kafka im Gespräch. Auch Christian Haag, der Anwalt des früheren Anlageführers, hatte am Montag nochmals eine Eingabe gemacht und sich auf die neue Grundlage bezogen.

Das Verfahren berücksichtigt die effektive Leistungsfähigkeit von körperlich beeinträchtigten Menschen. Anders als heute analysiert das Verfahren ihre körperlichen Funktionen auf eine reale Tätigkeit hin, zum Beispiel ob jemand noch knien, sitzen oder schwere Lasten über Kopf tragen kann. So kann die effektive Arbeitsunfähigkeit eindeutiger eruiert werden. Riemer-Kafka sagt:

«Sollte das Bundesgericht das Instrument als tauglich erachten, werden wir weitere Grundlagen zum Beispiel für psychisch beeinträchtige Menschen erarbeiten.»

Unter Fachleuten kommt der Entscheid des Bundesgerichts gut an. «Das Bundesgericht hat es jetzt in der Hand, gesundheitlich beeinträchtigten Menschen einen faireren Zugang zu Invalidenleistungen in Form einer beruflichen Eingliederung oder Rente zu ermöglichen», sagt Guido Bürle Andreoli, der sich bei Coop Rechtsschutz für eine neue Rechtspraxis einse tzt.

Auch Sozialversicherungsrechtler Michael E. Meier sagt: «Wenn die Bundesrichter mutig sind, nehmen sie die dringend nötigen Korrekturen jetzt vor .» Das würde den Druck auf das Bundesamt für Sozialversicherungen erhöhen, ihre bisherige Praxis trotz Mehr kost en zu ändern.

Wie wollen beeinträchtigte Menschen wohnen?

(Luzerner Zeitung)

Die Hochschule Luzern befragt tausende Menschen mit Behinderung. Dass die Wohnsituation besser werden muss, scheint schon klar.


Rene Zumstein fühlt sich in seinem Dachstudio auf dem Gelände der Stiftung für Schwerbehinderte Luzern wohl. Bild: PD/Jutta Vogel

 

Alexander von Däniken

Rene Zumstein wird von der Stiftung für Schwerbehinderte Luzern (SSBL) betreut. Das heisst noch lange nicht, dass er unselbstständig ist. Im Gegenteil: Zumstein bewohnt allein ein Dachstudio, das einer Wohngruppe angegliedert ist. So kann er auf Unterstützung zählen, wenn er sie braucht. Ein Bild auf der SSBL-Website zeigt, wie zufrieden Zumstein ist. Aber wie steht es um andere Menschen mit psychischer Beeinträchtigung? Sind auch Personen mit physischer Einschränkung mit ihrer Wohnsituation zufrieden?

Genau diesen Fragen geht das Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern nach. Seit dem 25. Oktober und bis Ende Januar nächsten Jahres können alle Personen teilnehmen, die im Kanton Luzern leben, eine Beeinträchtigung haben und mindestens zehn Jahre alt sind. Die Fragebögen gibt es auch in leichter Sprache und in einer Version für Schülerinnen und Schüler. Zusätzlich bieten Projektleiter Rene Stalder und sein Team persönliche Gespräche an. «Wir wollen möglichst viele Betroffene erreichen», sagt Stalder. Das Ziel: Fakten schaffen, damit Institutionen wie die SSBL, ambulante Anbieter wie Pro Infirmis, aber auch der Kanton Luzern möglichst präzise auf
die Wohnbedürfnisse der Betroffenen eingehen können.

UNO gibt selbstbestimmtes Wohnen vor

Grundlage ist laut Stalder die UNO-Behindertenrechtskon-vention, welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Die Konvention hat unter anderem dasselbstbestimmte Wohnen und den Einbezug in die Gemeinschaft zum Ziel. Auch das kantonale Leitbild «Leben mit Behinderung» richtet sich danach aus. «Die Umsetzung dieser Vorgaben interessiert mich besonders», sagt Stalder, der am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern doziert und das Kompetenzzentrum Behinderung und Lebensqualität leitet.

Ursprünglich hat sich eingangs erwähnte SSBL vor einem Jahr für die Umfrage interessiert. Das zog dann aber immer weitere Kreise: Die Heimkonferenz des Kantons Luzern, quasi der Zusammenschluss aller vom Kanton anerkannten sozialen Institutionen, bei dem auch die SSBL dabei ist, schloss sich an. Dann auch die Dienststelle Soziales und Gesellschaft des Kantons und Behindertenorganisationen wie die Pro Infirmis. Stalder: «In dieser Breite und Tiefe hat es in der Schweiz noch keine solche Befragung gegeben.»

SSBL-Geschäftsführer Pius Bernet sagt auf Anfrage: «Wir betrachten die von uns betreuten und begleiteten Menschen mit Behinderungen als unsere Kunden. Somit ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, diese zu befragen, welche Bedürfnisse diese jetzt und in Zukunft haben.» Weil der Zugang zu den Betroffenen für eine Befragung im Kanton Luzern nur über die sozialen Institutionen möglich ist, habe er als Co-Präsident der Heimkonferenz den Vorschlag für eine gemeinsame Umfrage eingebracht. Allein Pro Infirmis Luzern, Ob- und Nidwalden verteilt 2500 Einladungen zur Teilnahme an der Umfrage, wie Geschäftsleiterin Martina Bosshart sagt. Pro Infirmis engagiere sich bei diesem Projekt, weil es wichtig sei, alle Akteure für die Wahlfreiheit der Betroffenen zu sensibilisieren. «Menschen mit Behinderung haben wie alle anderen das Recht, dort zu leben, wo sie wollen, mit wem sie wollen, wie sie wollen. Davon sind wir aufgrund fehlender ambulanter oder fehlender kleiner, dezentraler stationärer Angebote noch weit entfernt.»

Die Flexibilität und Durchlässigkeit der Angebote müssen besser werden. «Auch Finanzierungslücken und komplizierte Finanzierungsmodelle erschweren die Verwirklichung eines möglichst selbstbestimmten, selbstständigen Wohnens. Das erleben wir täglich in unserer Beratung», so Bosshart. Der Altersbereich sei da mit vielerlei Angeboten für die Betreuung und Pflege zu Hause bereits weiter. Die Umfrage wird laut Projektleiter Rene Stalder ab Februar ausgewertet; mit den Resultaten ist ungefähr im Juni zu rechnen.

«Es gibt noch grosse Lücken»

Gespannt auf die Resultate ist auch Rene Kaufmann, Ge-schäftsleiter von Insieme Luzern. «Es gibt noch grosse Lücken, was die Wohnbedürfnisse von Betroffenen angeht», sagt Kaufmann. Der Kanton habe zwar das Gesetz für die 32 sozialen Einrichtungen hinsichtlich ambulanter Angebote verbessert. «Aber da muss noch mehr gehen.» In Zeiten, wo Menschen mit Beeinträchtigung vermehrt in die Gesellschaft integriert werden, mangle es zum Beispiel noch immer an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen im ersten Arbeitsmarkt für Betroffene. Was eine solche Stelle für die Wohnsituation bedeute, werde ebenfalls noch zu wenig diskutiert.

Einen ersten Nutzen hat die Umfrage laut SSBL-Geschäftsführer Pius Bernet bereits gebracht: «Wir haben festgestellt, dass mit der Umfrage die Zusammenarbeitsbereitschaft zwischen den einzelnen Organisationen schon wesentlich gesteigert werden konnte und eine Aufbruchstimmung aufkommt.»

Hinweis
Informationen zur Umfrage: www.hslu.ch/wohnen

Förderung der Selbst- und Mitbestimmung von Menschen mit Behinderung

(sg.ch)


Die UN-Behindertenrechtskonvention garantiert Menschen mit Behinderung ein grösstmögliches Mass an Selbst- und Mitbestimmung und fördert somit ihre Chancengleichheit. Am diesjährigen Fokus-Tag besuchte Regierungsrätin Laura Bucher den HPV Rorschach. Anhand wertvoller Alltagseinblicke sah sie, wie Selbst- und Mitbestimmung beim HPV Rorschach konkret umgesetzt werden. Vertieft wurde der Einblick mit einem weiteren Besuch des Vereins «mensch-zuerst schweiz».

Im Rahmen des Fokus-Tages stand für Regierungsrätin Laura Bucher die Selbst- und Mitbestimmung von Menschen mit Behinderung im Zentrum. Mit dem Besuch des HPV Rorschach sowie einem Weiterbildungsangebot für Menschen mit Behinderung erhielt die Vorsteherin des Departementes des Innern einen vertieften Einblick in ihren Alltag. Laura Bucher dankte im Namen der Regierung dem HPV Rorschach, stellvertretend für sämtliche Behinderteneinrichtungen im Kanton, für die grossen Bemühungen bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention sowie die aktive Beteiligung und das Engagement der Betroffenen. Dies sei ganz im Sinn der kantonalen Behindertenpolitik, welche die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und damit die Förderung der Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung als zentralen Pfeiler erachtet.

Mitsprache über Selbstvertretungsgruppen und -räte

Der HPV Rorschach arbeitet mit sogenannten Selbstvertretungsgruppen und -räten. Dank diesen konnte zum Beispiel der Wunsch nach einer längeren Mittagspause mit der Geschäftsleitung besprochen werden. Ein Betroffener schilderte, dass dank der Mitsprache ganz allgemein die eigenen Verbesserungsvorschläge besser eingebracht werden könnten. So könnten sie über ihren Alltag mitbestimmen und sie fühlten sich damit gehört und verstanden.

Dank Peer-Weiterbildung anderen Betroffenen helfen

Einen weiteren Einblick in das Thema Selbst- und Mitbestimmung erhielt Laura Bucher beim Besuch des Vereins «mensch-zuerst schweiz». In einer Weiterbildung des Vereins setzen sich Betroffene zuerst einmal mit sich selbst und mit ihren individuellen Fähigkeiten auseinander. Anschliessend lernen sie, anderen Betroffenen in verschiedensten Lebenssituationen beratend zur Seite zu stehen (sogenannte Peer-Beratung). Als Peer-Beraterin könne sie anderen Betroffenen auf Augenhöhe begegnen, weil sie selbst ähnliche Erfahrungen gemacht habe, sagte eine Kursteilnehmerin.

Bewährte Kooperation von Kanton und Privaten

Der Kanton St.Gallen hat bei spezialisierten Wohnangeboten sowie Werk-, Tages- und Beschäftigungsstätten einen umfassenden gesetzlichen Auftrag: Er bewilligt und beaufsichtigt die Einrichtungen, plant das Angebot und finanziert die Aufenthalte mit. Ausserdem unterstützt der Kanton St.Gallen verschiedene Beratungsangebote, z.B. von Pro Infirmis, Procap, Profil Arbeit & Handicap oder neu auch die Peer-Beratung des Vereins «mensch-zuerst schweiz».

Cham veröffentlicht neue Broschüre: Aktive Erholung und gemeinsames Spielen für alle

(luzerner zeitung.ch)

Die Einwohnergemeinde Cham verfügt über zahlreiche Spiel- und Bewegungsplätze für ganz unterschiedliche Bedürfnisse. In einer neu erschienenen Broschüre werden diese vorgestellt.

«Spielen, Bewegen und Erleben in der Einwohnergemeinde Cham» lautet der Titel der neu erschienenen Broschüre, die laut Mitteilung der Gemeinde vom Ressort Gartenbau/Friedenhof in Zusammenarbeit mit den Abteilungen Verkehr und Sicherheit sowie Soziales und Gesundheit herausgegeben wurde. Ziel der Broschüre ist es, Orte bekannt zu machen, wo Jung und Alt sich unbeschwert treffen und gemeinsam Spiel- und Bewegungslust ausleben können. «Spielen beschwingt, befreit, bringt uns in andere Welten, sorgt für Optimismus, förderte Kontakte − generationenübergreifend», schreiben Christine Blätter-Müller und Drin Alaj als Mitglieder des Gemeinderates im Vorwort.

Vielfältige Möglichkeiten für alle Generationen

In der Broschüre sind rund 30 öffentliche Plätze aufgelistet, die für spielerische und sportliche Tätigkeiten mehrheitlich ganzjährig frei genutzt werden können. Dazu gehören klassische Spielplätze mit Rutschen, Schaukeln oder Klettergeräten, aber auch Outdoor-Einrichtungen für gezieltes Training der Muskelkraft, für das Erhalten eines stabilen Gleichgewichts oder für das Fahren mit Rollsportgeräten auf den Pumptracks sowie der mobilen Funbox. Ebenso werden Grillstellen aufgezeigt, die nach einem Spaziergang zum Erholen und Verweilen einladen. Alle Örtlichkeiten werden in kurzen Texten beschrieben. Mit einer Übersichtskarte sind die auf dem ganzen Gemeindegebiet verstreuten Plätze leicht auffindbar.

Zusammenarbeit mit Pro Infirmis für hindernisfreien Zugang

Heute nehmen Kinder mit Beeinträchtigung und deren Begleitpersonen selbstverständlich am gesellschaftlichen und sozialen Leben teil. Dies entspricht den Prinzipien der Uno-Behindertenrechts-konvention. Im Freizeitbereich erfordert dies hindernisfrei zugängliche Plätze. Die Gemeinde Cham legt grossen Wert auf Spielplätze, die für alle – mit und ohne Beeinträchtigung – zugänglich sind. Als Beispiel ermöglichen Rampen anstelle von Stufen einen Zugang ohne Hindernisse. Für Personen, die mit Kinderwagen, Rollator oder Rollstuhl unterwegs sind. Rampen erleichtern ebenso dem Werkdienst den Spielplatzunterhalt. Für die neue Broschüre hat die Einwohnergemeinde Cham die Fachstelle Hindernisfreies Bauen von Pro Infirmis mit der Überprüfung aller öffentlichen Spielplätze beauftragt.

Cham_Spielplatzfuehrer_2021.pdf

Gänzlich auf die Bedürfnisse von Kindern mit einer kognitiven Einschränkung oder Mehrfachbehinderung zugeschnitten wurde der sensorische Garten in Hagendorn. Die Anlage ermöglicht besondere Erlebnisse für alle Sinne, unter anderem mit speziellen Spielobjekten, unterschiedlicher Bodenbeschaffenheit oder duftenden Pflanzen. (haz)

Alltagshürden aus dem Weg schaffen

(Südostschweiz / Bündner Zeitung)

Im Titthof in Chur findet am 22. November die Verleihung des Pro Infirmis Kristalls statt. Damit wird die Öffentlichkeit auf die täglichen Hindernisse für Menschen mit einer Behinderung aufmerksam gemacht

von Gianna Jäger

In der Schweiz leben gemäss Bundesamt für Statistik rund1,7 Millionen Menschen mit Behinderung. Viele dieser Personen erleben in ihrem Alltag Hindernisse, die sie einschränken oder beeinträchtigen. Sie haben zum Beispiel Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche, finden keine geeignete Wohnung, können mit ihrem Rollstuhl nicht selbstständig ins Postauto oder in den Zug einsteigen oder finden keinen passenden Sportverein. «Alltagshürden gibt es in allen Lebensbereichen», sagt Katrin Thuli-Gartmann, Geschäftsleiterin von Pro Infirmis Graubünden.

Im Jahr 2004 wurde der Pro Infirmis Kristall, eine Auszeichnung für gute Beispiele von gelebter Integration und Gleichstellung, zum ersten Mal vergeben. Alltagshürden aus dem Weg schaffen – das ist die Grundhaltung hinter der diesjährigen Kristallverleihung. Der Anlass findet am 22. November, ab 17.30 Uhr im Titthof in Chur statt. Ziel des Projekts ist es gemäss der Geschäftsleiterin, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren für die Hindernisse im täglichen Leben von Menschen mit Behinderung.

Über 20 Vorschläge eingereicht

Personen mit einer Behinderung, Angehörige und Bezugspersonen aus Graubünden erhielten von Anfang Mai bis Ende Juni die Möglichkeit, auf
ihre Alltagshürden aufmerksam zu machen. Insgesamt wurden 49 Alltagshürden eingereicht, wie Thuli-Gartmann erklärt. In einem zweiten Schritt konnten jegliche Personen Lösungsvorschläge für die verschiedenen Alltagshürden auf der Homepage von Pro Infirmis Graubünden hochladen und somit am Wettbewerb teilnehmen. Gut 20 Lösungsvorschläge sind eingereicht worden.

Die Vorschläge werden nun einerseits von einer Jury und andererseits durch die jenigen Personen bewertet, die eine Alltagshürde eingereicht haben. In der Jury sind Betroffene, Fachpersonen sowie Personen aus Politik und Wirtschaft vertreten. An der öffentlichen Preisverleihung wird es eine Prämierung für die besten Lösungsvorschläge geben. Der Hauptgewinn ist der Pro Infirmis Kristall.

Im Jahr 2004 wurde der Pro Infirmis Kristall zum ersten Mal vergeben.

Die Jury kann aber noch bis zu drei weitere kleinere Preise verteilen, wie Geschäftsleiterin Thuli – Gartmann sagt. Ausserdem wird Pro Infirmis gute Beispiele unabhängig von den eingereichten Alltagshürden prämieren.

Keine Benachteiligung mehr

Pro Infirmis setzt sich schweizweit dafür ein, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt am sozialen Leben teilnehmen können und nicht benachteiligt werden. Die Gleichstellung von Menschen mit einer Behinderung solle nämlich in allen Lebensbereichen selbstverständlich sein, heisst es auf der Internetseite der Organisation. «In unserer Gesellschaft sind sämtliche Lebensbereiche nur auf Menschen ausgerichtet, die ohne jegliche Einschränkungen durchs Leben gehen»,
meint Thuli-Gartmann. Pro Infirmis Graubünden wollte bewusst von Menschen mit einer Behinderung erfahren, mit welchen Hürden sie im Alltag
zu kämpfen hätten. «Denn die Hindernisse fallen oft erst dann auf, wenn man die Situation aus der Sicht der Betroffenen betrachtet.»

Nach der Türöffnung zur Verleihungsfeier um 17 Uhr erfolgt um17.30 Uhr die offizielle Eröffnung und Begrüssung durch Geschäftsleiterin
Thuli-Gartmann. Anschliessend be- kommt das Publikum einen Einblick in die Jury. Zu Wort kommen Martin Candinas, Nationalrat und Präsident
der Kantonalkommission Pro Infirmis Graubünden, sowie Romano Seglias, Jurymitglied und Betroffener. Zu guter Letzt erfolgt die Preisverleihung durch Regierungspräsident Mario Cavigelli mit anschliessendem Apdro.

Für musikalische Unterhaltung sorgt das Duo John & Ad.Für den Anlass ist eine Anmeldung bis Mittwoch,17. November, erforderlich, unter 058 775 17 17, graubuenden@proinfirmis.ch oder alltagshuerden.ch.


Problematisch: Menschen mit einer Behinderung treffen in ihrem Alltag auf viele Hindernis Bild Gaetan Bally / keystone

 

Und wenn die Suva die Schulden der IV übernähme?

(Neue Zürcher Zeitung)

von Markus KAUFMANN

Die Invalidenversicherung (IV) ist eine der grossen Errungenschaften der Schweiz: Seit sechzig Jahren gibt sie Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und ihren Familien eine Perspektive. Die Betroffenen erhalten Unterstützung, damit sie am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Als eigentliche Volksversicherung wird sie von Arbeitnehmenden, Arbeitgebenden und dem Staat finanziert.

Mit der 4. und der 5. Revision wurde die IV umgebaut. Nach dem Motto «Eingliederung statt Rente» halbierte sich die Zahl der Neurenten. Gleichzeitig gab es dreimal mehr Eingliederungsmassnahmen. Die Neuausrichtung der IV hat aber auch ihre Schattenseiten. Tausende schaffen den Einstieg ins Erwerbsleben nicht mehr und beziehen heute Sozialhilfe statt einer IV-Rente. Problematisch ist zudem die Berechnung des hypothetischen Einkommens, das mit einer Behinderung erzielt werden kann.

Bei Menschen, die in Branchen mit tiefen Löhnen gearbeitet haben, ist dieses hypothetische Einkommen manchmal sogar höher als der vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung erzielte Lohn. Sie zahlen Prämien, haben aber aus rein rechnerischen Gründen keinen Anspruch auf IV-Leistungen, auch wenn die Invalidität unbestritten ist.

In den nächsten Jahren kommen grosse Herausforderungen auf die IV zu. Mit der Weiterentwicklung der IV werden Kinder, Jugendliche und psychisch erkrankte Versicherte bedürfnisgerechter unterstützt. Mit dem Entscheid des Bundesgerichts aus dem Jahr 2019 können sich auch Suchterkrankte bei der IV melden. Fachleute gehen davon aus, dass viele Long-Covid-Betroffene auf IV-Renten angewiesen sein werden. Die Digitalisierung wird dazu führen, dass mehr Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen keinen Platz mehr auf dem Arbeitsmarkt finden werden. Wir brauchen deshalb im kommenden Jahrzehnt eine starke und gut finanzierte IV, die ihre Aufgabe kraftvoll wahrnehmen kann.

Die IV-Schulden von über 10 Milliarden Franken wirken in dieser Situation wie ein Klotz am Bein. Ein Abbau dieser Schulden ist nur mit einem massiven Leistungsabbau in den nächsten Jahren möglich. Dies würde unweigerlich zu einer starken Verlagerung in die Sozialhilfe führen: eine menschliche Katastrophe für die Betroffenen und eine finanzielle für Gemeinden und Kantone.

Die Zeit für das Finden einer Lösung drängt, denn die AHV, die der IV das Geld ausgeliehen hat, braucht die Milliarden bald selber. Eine mögliche Lösung wäre die Ausweitung der Solidarität unter den obligatorischen Sozialversicherungen. Die ältere Schwester der IV, die über 100-jährige Unfallversicherung, steht heute besser da denn je. Sie weist 2019 ein Kapital von rund 66 Milliarden Franken aus. Allein die Suva weist 2020 ein Vermögen von 56 Milliarden Franken aus. In den 2010er Jahren wuchs der Deckungsgrad der versicherungstechnischen Rückstellungen rasant von 109 auf 154 Prozent. Das Corona-Jahr 2020 war gleichzeitig, gemessen an der Bevölkerung, das unfallärmste seit Messbeginn.

Im Sinne der erweiterten Solidarität zwischen den Sozialversicherungen könnte die Suva die IV-Schulden in ihre Bilanz übernehmen und in den nächsten zehn Jahren einen Teil ihrer Anlagegewinne zur Tilgung der IV-Schuld einsetzen. Immer unter Wahrung eines minimalen Deckungsgrades von beispielsweise 125 Prozent. Die Leistungen der Suva wären weiterhin gesichert, und die IV könnte ihre Aufgabe wieder besser erfüllen. Ein solcher Vorschlag macht Änderungen von Gesetzen und allenfalls der Verfassung nötig. Es geht in der Regel nicht ohne Auseinandersetzung, wenn ein mittelloses Geschwister zu unterstützen ist. Doch langfristig profitiert die ganze Familie davon.

Markus Kaufmann ist Geschäftsführer der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos).